Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
die Jahre 1938, 1939, 1940, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 1950, 1951 meines ganzen Lebens, das so schrecklich ist?
Die Operation war im Gange, und obwohl ich jedes Wort hörte, bemühte ich mich, an etwas Eigenes zu denken, und irgendwo aus meiner größten Tiefe, aus dem innersten Kern meines Wesens stieg ein feiner Strahl des Willens, des Lebens. Dieser Strahl wurde immer mächtiger, immer voller, und plötzlich atmete es sich leicht. Die Operation war beendet.
1953 starb Stalin, und es begann ein neues Leben mit neuen Hoffnungen, ein lebendiges Leben mit lebendigen Hoffnungen.
Meine Wiedererweckung war die Begegnung mit dem März 1953. Als ich auf dem Operationstisch erwachte, wusste ich, dass ich leben muss. Und war wiedererweckt.«
In der Siwzew Wrashek-Gasse warten wir auf Antwort. Die Hausherrin kommt heraus, mit den Absätzen klappernd, der weiße Kittel ist zugeknöpft, das weiße Mützchen sitzt fest auf den akkurat gelegten grauen Haaren. Die Hausherrin schaut den Gast mit ihren großen, schönen dunklen weitsichtigen Augen ruhig an.
Ich stand, mit der Fenstergardine verschmelzend, mit dem schweren eingestaubten Vorhang. Ich, der die Vergangenheit gekannt und die Zukunft gesehen hatte. Ich war im Konzentrationslager gewesen, ich selbst war ein Wolf und wusste den Wolfsbiss zu schätzen. Ich verstand etwas vom Benehmen der Wölfe.
In mein Herz trat Bangigkeit ein – nicht Angst, sondern Bangigkeit – ich sah den morgigen Tag dieser mittelgroßen, dunkelblonden Frau, der Tochter von Natalja Klimowa. Ich sah ihren morgigen Tag, und mein Herz schmerzte.
»Ja, ich habe von dieser Flucht gehört. Eine romantische Zeit. Und den ›Brief vor der Hinrichtung‹ habe ich gelesen. Mein Gott! Die ganze russische Intelligenz … Ich erinnere mich, erinnere mich an alles. Aber Romantik ist das eine, und das Leben – verzeihen Sie mir –, das Leben ist etwas anderes. Wie viele Jahre waren Sie im Lager?«
»Zehn.«
»Sehen Sie. Ich kann Ihnen helfen – um Ihrer Mama willen. Aber ich lebe ja nicht auf dem Mond. Ich bin ein Erdenbewohner. Vielleicht haben Ihre Verwandten irgendetwas aus Gold, einen Reif vielleicht, einen Ring …«
»Sie haben nur eine Medaille, Mamas Schulmedaille. Einen Ring haben sie nicht.«
»Sehr schade, dass sie keinen Ring haben. Eine Medaille, das ist für Zahnkronen. Ich bin ja Zahnärztin und Prothesistin. Das Gold wird bei mir immer schnell verbraucht.«
»Sie müssen gehen«, flüsterte ich.
»Ich muss leben«, sagte die Tochter von Natalja Klimowa fest. »Hier …« Und aus der Tasche ihrer Lagerweste holte sie ein Stoffsäckchen hervor.
1966
Am Steigbügel
Der Mann war alt, langarmig und kräftig. In seiner Jugend hatte er ein seelisches Trauma erlitten, als Schädling wurde er zu zehn Jahren verurteilt und in den Nordural zum Bau des Papierkombinats von Wischera gebracht. Hier zeigte sich, dass das Land seine Ingenieurkenntnisse brauchte – man schickte ihn nicht zum Erdeschaufeln, sondern zur Bauleitung. Er leitete einen von drei Bauabschnitten gleichberechtigt mit anderen Häftlingsingenieuren – Morduchaj-Boltowskij und Budsko. Pjotr Petrowitsch Budsko war kein Schädling. Er war ein Säufer, verurteilt nach Artikel einhundertneun . Aber für die Leitung war ein
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noch bequemer, und für die Kameraden sah Budsko aus wie ein echter Achtundfünfziger, Punkt sieben . Der Ingenieur wollte an die Kolyma. Bersin, der Direktor von Wischchims, brach auf ins Gold, er übergab seine Geschäfte und stellte seine Mannschaft zusammen. An der Kolyma erwartete einen ja das Schlaraffenland und die beinahe sofortige vorfristige Befreiung. Pokrowskij hatte eine Eingabe gemacht und verstand nicht, wieso man Budsko nimmt und ihn nicht, die Ungewissheit quälte ihn, und er beschloss, einen Empfang bei Bersin selbst zu erwirken.
Fünfunddreißig Jahre später schrieb ich Pokrowskijs Erzählung auf.
Diese Erzählung, diesen Tonfall hatte Pokrowskij durch sein ganzes Leben als großer russischer Ingenieur getragen.
»Unser Chef war ein großer Demokrat.«
»Ein Demokrat?«
»Ja, wissen Sie, wie schwer es ist, an einen großen Natschalnik heranzukommen? An einen Trust-Direktor, einen Sekretär des Gebietskomitees? Vormerkungen beim Sekretär. Weshalb? Warum? Wohin? Wer bist du?
Und hier – du bist ein rechtloser Mensch, ein Häftling, und plötzlich ist es so einfach, einen so hohen, auch noch militärischen Natschalnik zu sehen. Auch noch mit einer solchen Biographie –
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