Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Kinder sind voller Beschreibungen der Natur, und man spürt, das ist kein buchgelehrtes philosophisches Begreifen des Sinns der Dinge, sondern der von Kind an geübte Umgang mit dem Wind, dem Berg, dem Fluss.
Es gibt einen wunderbaren Brief über die Gymnastik und den Tanz.
Die Briefe an die Kinder berücksichtigen natürlich das kindliche Verständnis des Problems und auch die Gefängniszensur.
Klimowa kann auch von Karzerstrafen schreiben – Natalja Sergejewna saß oft im Karzer, und der Grund dafür war in allen Gefängnissen ihr Eintreten für die Rechte der Häftlinge. I. Kachowskaja , die Klimowa in Petersburg und in Moskau begegnet war – selbstverständlich in den Gefängniszellen –, erzählt viel davon.
I. Kachowskaja beschreibt, wie Natascha Klimowa in der benachbarten Einzelzelle des Petersburger Durchgangsgefängnisses »zum rhythmischen Klirren der Fesseln allerlei wunderliche Tänze« tanzte.
Wie sie ein Gedicht von Balmont an die Wand trommelte:
»Wer gern möchte, dass die Schatten
Sich verziehen und sich trollen,
Wer nicht möchte, dass das Alte
Und der Kummer wiederkommen,
Der hilft sich am besten selbst –
Schlägt das Unnütze energisch
Und für immer aus dem Feld –
das trommelte mir an die Wand als Antwort auf meine Lamentationen in dieser Sache die zu unbefristeter Haft einsitzende N. Klimowa. Vor einem halben Jahr hatte sie die Hinrichtung ihrer nächsten Menschen erlebt, die Peter und Pauls-Festung und das Todesurteil.«
Balmont war der Lieblingsdichter von Natalja Sergejewna. Das war ein »Modernist« – und dass »die Kunst aufseiten des Modernismus ist«, spürte Natalja Sergejewna, auch wenn das nicht ihre Worte sind.
Den Kindern schrieb sie aus dem Gefängnis einen ganzen Brief über Balmont. Natalja Sergejewnas Natur brauchte die sofortige logische Rechtfertigung ihrer Gefühle. »Sentimente mit Philosophie« – nannte diese Charaktereigenschaft von Natalja Sergejewna ihr Bruder Mischa.
Balmont – das bedeutet, dass sich Natalja Sergejewnas literarischer Geschmack, so wie ihr ganzes Leben, ebenfalls an den vordersten poetischen Linien ihrer Zeit orientierte. Und wenn Balmont die Hoffnungen Klimowas rechtfertigte, dann reicht das Leben der Klimowa aus, um die Existenz Balmonts, das Werk Balmonts zu rechtfertigen. Die Gedichte lässt sich Klimowa in den Briefen außerordentlich angelegen sein, sie ist bemüht, die Sammlung »Seien wir wie die Sonne« immer bei sich zu haben.
Wenn es in Balmonts Gedichten ein Motiv, eine Melodie gab, die Saiten von solcher Gestimmtheit wie Klimowas Seele zum Klingen brachten – ist Balmont gerechtfertigt. Man könnte meinen, einfacher und ihr entsprechender wären Gorkij und sein Sturmvogel gewesen, Nekrassow … Nein. Klimowas Lieblingsdichter ist Balmont.
Bloks Motiv des bettelarmen, winddurchblasenen Russlands war auch sehr stark in Klimowa, besonders in ihren einsamen Jahren, den Auslandsjahren.
Natalja Sergejewna fand sich selbst undenkbar außerhalb Russlands, ohne Russland und nicht für Russland. Die Sehnsucht nach der russischen Natur, nach den russischen Menschen, nach dem Haus in Rjasan – die Nostalgie in ihrer reinsten Form ist in den ausländischen Briefen sehr lebhaft und, wie immer, leidenschaftlich und logisch ausgedrückt.
Und noch ein Brief ist schrecklich. Natalja Sergejewna, die die Trennung mit aller Leidenschaft erlebte und ständig an die Heimat dachte und sie ständig beschwor, zögert plötzlich und sagt Worte, die gar nicht zu einer Rationalistin, Voltairianerin und Erbin der Ungläubigkeit des 19. Jahrhunderts passen – Natalja Sergejewna schreibt beklommen, von einem Vorgefühl ergriffen, dass sie Russland vielleicht niemals wiedersehen wird.
Und was ist geblieben von diesem leidenschaftlichen Leben? Nur die Goldmedaille aus der Schule in der Tasche der Lagerweste der ältesten Tochter von Natalja Sergejewna Klimowa.
Ich folge Klimowas Spur nicht allein. Mit mir ist ihre älteste Tochter, und wenn wir das Haus finden, das wir suchen, geht die Frau hinein, in die Wohnung, und ich bleibe auf der Straße oder drücke mich, wenn ich ihr folge, irgendwo an eine Wand und verschmelze mit der Fenstergardine.
Ich habe sie als Neugeborenes gesehen und erinnere mich, wie die starken, festen Arme der Mutter, die leicht die pudschweren, für den Mord an Stolypin gedachten Dynamitbomben schleppten, mit gieriger Zärtlichkeit das Körperchen ihres ersten Kindes an sich drückten. Das Kind wird Natascha
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