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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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genannt – die Mutter gibt ihm den eigenen Namen, damit die Tochter zu einer Großtat, zur Fortsetzung der Sache der Mutter verurteilt ist, damit ihr Leben lang diese Stimme des Blutes, dieser Aufruf des Schicksals klingt, damit die nach der Mutter Genannte ihr Leben lang auf diese mütterliche Stimme reagiert, die sie beim Namen ruft.
    Sie war sechs Jahre alt, als die Mutter starb.
    1934 besuchten wir Nadeshda Terentjewa, die Maximalistin und Mitangeklagte Natalja Sergejewna Klimowas im ersten großen Verfahren, zur Apothekerinsel.
    »Du bist deiner Mutter nicht ähnlich, nicht ähnlich«, schrie Terentjewa die neue Natascha an, die dunkelblonde Tochter, die der brünetten Mutter nicht ähnelte.
    Terentjewa hatte die mütterliche Kraft nicht entdeckt, nicht erahnt, die gewaltige Lebenskraft nicht gespürt, die die Tochter Klimowas für noch größere Prüfungen brauchte, als die Feuerproben, die der Mutter beschieden waren.
    Wir haben Nikitina besucht – eine Teilnehmerin an der Flucht der Dreizehn, haben ihre beiden Bücher über diese Flucht gelesen.
    Wir haben das Revolutionsmuseum besucht. Auf der Schautafel der neunzehnhunderter Jahre waren zwei Photographien, Natalja Klimowa und Michail Sokolow. »Schickt mir die Photographie, auf der ich in der weißen Bluse und im umgehängten Mantel bin – viele bitten mich, und wenn sie nicht da ist (Mischa sagte, sie sei verloren), dann die aus dem Gymnasium. Es bitten mich viele.«
    Diese innigen Zeilen stammen aus dem ersten Brief Natalja Sergejewnas nach der Flucht.
    Jetzt ist das Jahr ’47, und wir stehen wieder zusammen in der Siwzew Wrashek-Gasse .
    In der Weste hängt noch, wie ein Zeichen teuren Parfums, der kaum spürbare Geruch der Pferdeställe des Kasachstaner Lagers.
    Das war ein Urgeruch, von dem alle Gerüche der Welt herkommen, der Geruch der Erniedrigung und der Eleganz, der Geruch der Armut und des Luxus.
    Im Lager, in der Steppe von Kasachstan, hatte die Frau an den Pferden Gefallen gefunden, wegen ihrer Freiheit, der Entfesselung der Herde, die aus irgendeinem Grund niemals versuchte, zu zertreten, zu vernichten, zu zermalmen und vom Erdboden hinwegzufegen. Die Frau in der Lagerweste, die Tochter Klimowas, verstand erst spät ihre erstaunliche Gabe, das Vertrauen von wilden Tieren und Vögeln zu gewinnen. Die Städterin erlebte die Anhänglichkeit von Hunden, Katzen, Gänsen und Tauben. Der letzte Blick des Schäferhundes bei der Trennung in Kasachstan war auch eine Grenze, eine Brücke, die in ihrem Leben verbrannt wurde – die Frau ging nachts in den Pferdestall und lauschte dem Leben der Pferde, das frei war, anders als das der Menschen, die die Frau umgaben, mit einem eigenen Interesse, einer eigenen Sprache, eigenem Leben. Später in Moskau, im Hippodrom, versucht die Frau erneut, den Pferden zu begegnen. Eine Enttäuschung erwartete sie. Die Rennpferde, im Geschirr, mit Bändern und Hüten, vom Fieber der Kommandos ergriffen, waren den Menschen ähnlicher als Pferden. Die Frau begegnete keinen Pferden mehr.
    All das war später, und jetzt hing in der Weste noch der kaum spürbare Geruch der Pferdeställe des Lagers in Kasachstan.
    Was war davor gewesen? Der Lachsfisch war in den heimatlichen Bach zurückgekehrt, um sich die Seiten an den Uferfelsen blutig zu schinden. »Ich habe sehr gern getanzt – das ist meine ganze Sünde vor dem düsteren Moskau des Jahres siebenunddreißig.« Sie war zurückgekommen, um auf der Erde zu wohnen, auf der ihre Mutter gewohnt, auf dem Dampfer bis nach Russland zu fahren, den Natalja Klimowa verpasst hatte. Der Lachsfisch hört nicht auf Warnungen, die innere Stimme ist stärker, mächtiger.
    Der unheilvolle Alltag der dreißiger Jahre: Verrat der engsten Freunde, Misstrauen, Argwohn, Erbitterung und Neid. Die Frau hatte damals für ihr Leben begriffen, dass es keine schlimmere Sünde gibt als die Sünde des Misstrauens, und schwor … Aber bevor sie schwor, wurde sie verhaftet.
    Man verhaftete ihren Vater, er verschwand in den blutglitschigen Kellern der Lager »ohne Recht auf Briefwechsel« . Der Vater hatte Kehlkopfkrebs, nach der Verhaftung hatte er nur noch kurze Zeit zu leben. Doch als man versuchte, Erkundigungen einzuziehen, kam die Antwort, er sei 1942 gestorben. Diese märchenhafte Antikrebswirkung, die wunderbare Anticarcerogenität des Lagers, in dem der Vater lebte und starb – erregte nicht die Aufmerksamkeit der internationalen Medizin. Ein düsterer Scherz, wie es damals nicht wenige gab.

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