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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Viele Jahre lang werden zwei Frauen auch nur nach dem Schatten einer Spur des Vaters und Ehemanns suchen und nichts finden.
    Zehn Jahre Lager, die endlosen allgemeinen Arbeiten, erfrorene Hände und Füße – bis ans Lebensende wird kaltes Wasser ihren Händen weh tun. Die tödlichen Schneestürme, wenn du gleich, gleich aufhörst zu leben. Die namenlosen Hände, die dich halten im Schneesturm, in die Baracke führen, trocknen, wärmen und beleben. Wer sind sie, diese namenlosen Menschen, namenlos, wie die Terroristen der Jugend Natalja Klimowas.
    Herden von Pferden. Von kasachischen Lagerpferden, die freier sind als die Menschen, ihr besonderes Leben haben – die Frau aus der Stadt besaß die seltsame Gabe, das Vertrauen von wilden Tieren und Vögeln zu gewinnen. Tiere haben ja ein feineres Gefühl für Menschen, als die Menschen füreinander, und kennen sich mit menschlichen Eigenschaften besser aus als die Menschen. Tiere und Vögel hatten zur Tochter Natascha Klimowas Vertrauen – eben jenes Gefühl, das den Menschen so fehlte.
    1947, als die Untersuchung und fünf Jahre Lager hinter ihr lagen – fingen die Prüfungen erst an. Der Mechanismus, der zermalmte und tötete, erschien ewig. Wer durchgehalten, wer das Ende der Haftzeit erlebt hatte, der war zu neuen Wanderschaften verdammt, zu neuen unendlichen Qualen. Diese hoffnungslose Rechtlosigkeit, die Verdammnis – ist das blutdunkle Frührot des morgigen Tages.
    Dichtes, schweres goldenes Haar. Was wird noch kommen? Rechtlosigkeit, vieljährige Wanderschaft durch das Land, polizeiliche Anmeldungen , Arbeitssuche. Nach der Freilassung, nach dem Lager die erste Arbeit als Dienstmagd bei einem Lagerchef, das Ferkel, das gewaschen und versorgt werden muss, oder – zurück an die Säge, ans Holzfällen. Und die Rettung: eine Arbeit als Kassiererin. Die Bemühungen um die polizeiliche Anmeldung, »Regime«städte und -kreise , das Pass-Brandmal, die Pass-Beleidigung …
    Wie viele Grenzen werden noch zu überschreiten, wie viele Brücken zu verbrennen sein …
    Und in diesem Jahr 1947 begriff und spürte die junge Frau zum ersten Mal, dass sie nicht auf die Welt gekommen ist, um den Namen der Mutter berühmt zu machen, dass ihr Schicksal nicht der Epilog, nicht das Nachwort zu einem wenn auch nahen, wenn auch bedeutenden Leben ist.
    Dass sie ihr eigenes Schicksal hat. Und der Weg der Bekräftigung dieses ihres Schicksals eben erst begonnen hat. Dass sie eine ebensolche Vertreterin des Jahrhunderts und ihrer Zeit ist, wie ihre Mutter auch.
    Dass den Glauben an den Menschen zu bewahren bei ihrer persönlichen Erfahrung, bei ihrem Leben keine geringere Heldentat ist, als die Tat ihrer Mutter.
    Ich dachte oft, warum hat der allmächtige, allgewaltige Lagermechanismus die Seele der Tochter Klimowas nicht zertrampelt, ihr Gewissen nicht zermahlen? Und ich fand eine Antwort: Für den Zerfall, für die Vernichtung und Verletzung des Menschen durch das Lager braucht es eine nicht geringe Vorbereitung.
    Die Zerstörung ist ein Prozess, und ein langwieriger, ein vieljähriger Prozess. Das Lager ist das Finale, das Ende, der Epilog.
    Das Emigrantenleben hat die Tochter der Klimowa geschützt. Aber auch die Emigranten hielten sich ja in den Untersuchungen des Jahres ’37 nicht besser als die »Dagebliebenen«. Die Familientraditionen haben sie gerettet. Und jene gewaltige Lebenskraft, die eine Prüfung durch das Ferkel des Hausherrn erträgt – nur das Weinen gewöhnt sie einem für immer ab.
    Nicht nur, dass sie den Glauben an die Menschen nicht verliert, sie macht den Wiederaufbau dieses Glaubens, den stündlichen Beweis des Glaubens an die Menschen zu ihrer Lebensregel: »Von vornherein annehmen, dass jeder Mensch ein guter Mensch ist. Zu beweisen ist nur das Gegenteil.«
    Unter dem Bösen, dem Misstrauen, dem Neid, der Erbitterung – wird ihre reine Stimme sehr wahrnehmbar sein.
    »Die Operation war sehr schwer, Nierensteine. Es war das Jahr 1952, das mühsamste, schlimmste Jahr meines Lebens. Und auf dem Operationstisch dachte ich … Diese Operationen, Nierensteine, werden nicht unter Vollnarkose gemacht. Bei Vollnarkose sterben hundert Prozent der Operierten. Mich hatten sie örtlich betäubt, und ich dachte nur an eins. Ich muss aufhören mich zu quälen, muss aufhören zu leben – und das ist so leicht, den Willen ein wenig lockern – und die Schwelle ist überschritten, die Tür ins Nichtsein geöffnet … Wozu leben? Wozu wieder aufleben für ein 1937? Für

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