Erzählungen
dem Absinken des Landes – das Meer blieb uns auf den Fersen.
Bald wurde uns diese ungemütliche Lage deutlich, und alle, außer Simonat, der sich mit dem Steuern des Autos befassen mußte, drehten sich um und wollten auf die eben zurückgelegte Strecke blicken. Nichts war mehr zu sehen als Wasser. So rasch wir den Weg hinter uns brachten, so rasch versank er hinter uns im Wasser. Dabei schien das Meer nun völlig ruhig. Kaum daß hie und da eine Welle sich am immer neuen Strand brach. Es sah aus wie ein friedlicher See, der geheimnisvoll ständig anschwoll und wuchs, und es gab wohl nichts Tragischeres als die Verfolgung des Wagens durch das stille Wasser. Umsonst flohen wir vor ihm, das Meer stieg unaufhaltsam mit uns in die Höhe …
Bei einer Wegbiegung meinte Simonat, ohne die Augen von der Straße zu heben: »Hier sind wir auf halber Höhe. Noch eine Stunde geht’s aufwärts.«
Uns schauderte: Was nun! In einer Stunde würden wir die Paßhöhe erreicht haben, und dann mußten wir hinunter, gejagt vom Wasser, das uns einholen würde, uns wie eine Lawine unter sich begrabend! …
Die Stunde verstrich, ohne daß unsere Lage sich wesentlich verändert hätte. Schon tauchte über uns der Gipfel des Küstengebirges auf – als der Wagen plötzlich einen heftigen Satz zur Seite machte, der ihn beinahe an der Böschung zerschmettern ließ. Gleichzeitig schwoll hinter uns eine riesige Welle an, überflutete die Straße und brandete um unseren Wagen, der von Gischt eingehüllt wurde … Sollten wir doch noch alle verschlungen werden? …
Nein! Das Wasser ebbte zurück, während der Motor plötzlich rascher zu keuchen begann und sein Tempo beschleunigte.
Was war schuld an der unerwarteten Beschleunigung? Ein Aufschrei von Anna Raleigh verriet es uns: sie hatte eben entdeckt, daß ihr Mann nicht mehr am Wagen hing. Zweifellos hatte die Welle den Unglücklichen weggerissen, und darum auch zog der Wagen wegen der Gewichtsverminderung besser an.
Doch dann blieb er plötzlich stehen.
»Was ist los?« schrie ich Simonat zu, »eine Panne?«
Aber auch unter diesen tragischen Umständen behauptete sich der Berufsstolz des Chauffeurs. Er zuckte bloß mit den Schultern, was so viel heißen sollte wie: für einen Chauffeur wie mich gibt’s keine Pannen. Er zeigte nur wortlos auf die Straße vor uns. Da wurde mir klar, warum wir anhielten.
Keine zehn Meter vor uns war die Straße wie abgeschnitten. Abgeschnitten war das richtige Wort: als hätte einer mit einem riesigen Messer den Schnitt gemacht. Jenseits der scharfen Kante, die das Ende der Straße bildete – nichts, Leere, ein dämmeriger Abgrund, auf dessen Grunde man nichts zu unterscheiden vermochte.
Wir wandten uns um, verzweifelt, gewiß, daß unser letztes Stündlein geschlagen habe. Der Ozean, der uns bis hierher verfolgt hatte, mußte uns ja in wenigen Sekunden verschlingen …
Und dann stießen wir alle – außer Anna und ihren Mädchen, die zum Herzzerbrechen schluchzten – einen Freudenschrei aus: Nein, das Wasser stieg nicht mehr, oder vielmehr die Erde hatte aufgehört zu versinken. Ohne Zweifel war der Stoß, den wir vor ein paar Augenblicken verspürt hatten, das Ende der Naturerscheinung gewesen. Der Ozean lag still hinter uns, sein Spiegel lag ungefähr hundert Meter unterhalb der Stelle, an der wir zusammengedrängt neben dem immer noch ratternden Wagen standen; er erinnerte uns an ein großes Tier nach einem raschen Lauf.
Sollte es uns doch noch gelingen, uns aus der bösen Lage zu befreien? Das würden wir erst am folgenden Morgen wissen. Bis es so weit war, mußten wir uns gedulden. Einer nach dem andern legten wir uns auf den Boden, und ich glaube fast – Gott verzeihe mir! – ich schlief sogleich ein! …
In der Nacht
Ich werde durch ein furchtbares Brausen geweckt. Wieviel Uhr ist es? Ich weiß es nicht. Jedenfalls umgibt uns immer noch finstere Nacht.
Der Lärm steigt aus dem undurchdringlichen Abgrund, in den die Straße gestürzt ist, herauf. Was geht vor? … Ich könnte schwören, der donnernde Lärm komme von großen Wassermassen, die in hohem Falle stürzen, von gewaltigen Wellen, die aneinanderprallen … Ja, das muß es sein, denn ganze Wolken von Gischt steigen auf und durchnässen uns.
Dann wird es langsam stiller … und dann hört man gar nichts mehr … Der Himmel wird heller … dann ist’s Tag.
25. Mai
Welche Qual, so langsam über unsere wirkliche Lage aufgeklärt zu werden! Erst können wir nur die
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