Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Verne
Vom Netzwerk:
ausgerufen, als sich ein schreckliches Krachen vernehmen ließ. Der Fußboden bebte und wich von unseren Füßen weg, das ganze Landhaus begann in seinen Grundfesten zu schwanken.
    Wir stießen und schlugen einander, um zum Ausgang zu kommen; gepackt von unsagbarem Entsetzen, stürzten wir ins Freie.
    Kaum waren wir draußen, stürzte das Haus in sich zusammen und begrub den Gerichtspräsidenten Mendoza und meinen Kammerdiener Germain unter sich. Ein paar Augenblicke waren wir völlig bestürzt, was sicher begreiflich ist, und eben hatten wir den Entschluß gefaßt, den beiden zu Hilfe zu eilen, als wir Raleigh mit seiner Frau vom unteren Garten her auf uns zustürzen sahen.
    »Das Meer! … das Meer! …« schrie er aus vollem Halse.
    Ich drehte mich zum Ozean um – und blieb erstarrt und wie gelähmt stehen. Ich glaube nicht, daß ich mir dessen, was ich erblickte, völlig bewußt war, hatte aber sicher das deutliche Gefühl, daß die vertraute Aussicht sich verändert hatte. Mußte einem denn nicht das Herz vor Entsetzen stillstehen beim Anblick der Natur, von der wir eben noch festgestellt hatten, daß sie an sich unveränderlich bleibe? Und nun hatte sie sich in wenigen Sekunden seltsam verändert!
    Immerhin hatte ich bald einmal meine Kaltblütigkeit wiedergewonnen. Die eigentliche Überlegenheit des Menschen liegt ja nicht darin, die Natur zu beherrschen oder zu besiegen; es geht für den denkenden Menschen darum, sie zu verstehen, das ungeheure Universum im Mikrokosmos des Gehirns festzuhalten; und für den handelnden Menschen geht es darum, bei einer Revolte der Materie ruhig Blut zu bewahren und zu sagen: ›Mich zu zerstören vermagst du meinetwegen, mich aufzuwühlen aber niemals! …‹
    Sobald ich meine Beherrschung wiedererlangt hatte, begriff ich auch, inwiefern das Bild vor meinen Augen von dem vertrauten abwich. Der Felsabsturz war verschwunden, ganz einfach weg, und mein Garten begann genau auf Meeresspiegelhöhe. Das Meer hatte bereits das Gärtnerhaus verschlungen, und die Wellen leckten an den tiefstliegenden Blumenbeeten.
    Da kaum anzunehmen war, daß das Meer in dieser kurzen Zeit so gestiegen war, mußte man logischerweise schließen, daß das Land sich gesenkt hatte, und zwar über hundert Meter – der Felsabsturz hatte ja diese Höhe gehabt –, doch mußte alles mit einer gewissen Sanftheit geschehen sein, denn wir hatten ja kaum viel davon bemerkt, und das erklärte auch die relative Ruhe des Meeres.
    Ein kurzer Blick überzeugte mich, daß meine Hypothese korrekt war, bewies mir aber auch, daß das Absinken noch weiterging. Das Meer kam uns stetig näher, und das mit einer Geschwindigkeit, die bei zwei Metern in der Sekunde liegen mußte – das heißt also sieben bis acht Kilometer in der Stunde. – Infolgedessen mußten wir bei der Entfernung der am nächsten stehenden Wellen innerhalb von etwa drei Minuten ebenfalls verschlungen sein, sollte das Tempo des Absinkens dasselbe bleiben. Mein Entschluß kam blitzschnell:
    »Ins Auto!« schrie ich den andern zu.
    Sie hatten sofort verstanden, und wir alle rannten zur Garage, rissen den Wagen heraus und füllten im Nu den Tank bis obenhin mit Benzin. Dann sprangen wir aufs Geratewohl in den Wagen. Mein Chauffeur Simonat setzte den Motor in Gang, sprang hinters Steuerrad, schaltete, und im vierten Gang fuhren wir aufs Tor zu, das Raleigh für uns offenhielt. Dann rannte er hinterher, konnte sich gerade noch anklammern und kauerte auch schon auf den Hinterfedern des Autos.
    Es war höchste Zeit! Gerade als das Auto die Straße erreichte, fegte die erste Welle heran und netzte die Räder bis zu den Naben. Bah! Von jetzt an konnten wir uns über die Verfolgung durch das Meer lustig machen. Obgleich mein Wagen schwer überladen war, würde uns meine vorzügliche Maschine aus dem Bereich der Wellen entführen, das heißt falls der Sturz in den Abgrund sich nicht endlos hinausziehen sollte … Nun, wir hatten doch immerhin einigen Spielraum vor uns: mindestens zwei Stunden Aufstieg und eine Höhe von nahezu fünfzehnhundert Metern …
    Bald hingegen wurde mir klar, daß es noch zu früh war zum Frohlocken. Nachdem nämlich der erste Anlauf des Wagens uns etwa zwanzig Meter vom Wasser weggetragen hatte, nützte alles Gasgeben unseres guten Simonat nichts: die Distanz zwischen uns und dem Meer blieb stets dieselbe. Ohne Zweifel wurde der Wagen durch die übermäßige Last gebremst. Was wir auch unternahmen, unsere Geschwindigkeit entsprach genau

Weitere Kostenlose Bücher