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Es bleibt natürlich unter uns

Es bleibt natürlich unter uns

Titel: Es bleibt natürlich unter uns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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bleich in der goldgelben Brühe schwamm — und erstarrte plötzlich.
    „O popoi!“ stieß er erblassend hervor.
    „Was, o Benjamin, hast du?“ fragte Frau Wagenseil sanft.
    „Welchen Hahn, o Mathilde, hast du schlachten lassen?“ fragte er, und seine Stimme klang, als spräche er nach einem furchtbaren Erstickungsanfall mit dem Rest der ihm verbliebenen Luft. In diesem Augenblick trat Sophie mit dem Kotelett ins Speisezimmer.
    „Welchen Hahn haben Sie geschlachtet, Sophie?“ fragte Frau Wagenseil arglos.
    „Ei denn nun, den Robert Guiscard, gewiß doch!“ antwortete Sophie prompt. Der sechsjährige Dienst im Hause des Gräcisten war nicht spurlos an ihr vorübergegangen und hatte auch in ihre Umgangssprache jene liebenswürdigen Umständlichkeiten der homerischen Verse geschmuggelt, deren sich auch Dr. Wagenseil ständig zu bedienen pflegte.
    Dr. Wagenseil stürzte aus dem Speisezimmer. Und plötzlich erbleichte auch seine Gemahlin.
    „Aus welchem Stall haben Sie — je denn nun — den Hahn genommen, Sophie?“ fragte sie atemlos.
    „Nun fürwahr, gleich aus dem ersten linker Hand — gewiß nun freilich — wo er immer drin gewesen ist“, gab Sophie ein wenig verschnörkelt, aber treuherzig zur Antwort.
    „Um Himmels willen!“ stammelte Frau Wagenseil und faltete die Hände, „Sie haben, Unselige, dem Edlen von Rottenweiler den Hals abgedreht!“
    Sophie erstarrte wie Lots Weib zur Salzsäule, und die übrige Familie saß wie versteinert um den Tisch. Der Ausstellungssieger von München dampfte derweil auf der Tranchierschüssel, und die Gabel, mit der Dr. Wagenseil ihn aus der Brühe gehoben hatte, stak wie eine Mordwaffe in seiner kräftigen Brust. Sophie begann plötzlich zu schluchzen. Die anderen saßen stumm auf ihren Stühlen, als erwarteten sie, daß etwas Gräßliches geschehen werde. Dann schlug eine Tür ins Schloß, und schlurfende Schritte näherten sich dem Speisezimmer. Es war ein gebrochener Mann, der den Raum betrat. Niemand wagte die Augen zu erheben.
    „Oh, Theoi athanatoi!“ stöhnte Dr. Wagenseil dumpf und bedeckte die Augen mit seiner schmalen Gelehrtenhand, „zweihundertfünfundsiebzig Mark!!“ Er ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen und schob das Kotelett mit einer angewiderten Geste von sich fort. — „Oh, du Edler von Rottenweiler!“ seufzte er und starrte umflorten Blickes auf die Brust des Ausstellungssiegers von München, der solch einem wahrhaft tragischen Irrtum zum Opfer gefallen war. Und dann wedelte er sich den Dampf zu, der noch immer von dem saftigen Preisgockel aufstieg, schnupperte und zog die Überreste des stolzesten aller Hähne der Orpingtonrasse zu sich heran.
    „Sie können — wohlan denn —, o Sophie, mein Kotelett verzehren!“ sagte er dumpf und sah dann düster auf seine Familie: „Und ihr möget essen, wonach es euch — immer — gelüstet. — Den Edlen von Rottenweiler aber — fürwahr — verzehre ich allein! Beim Zeus, ein trockenes Gedeck für zweihundertfünfundsiebzig Mark! Nicht Lukullus und nicht Petronius, nicht Heliogabal und auch nicht Nero, der kaiserliche Schlemmer, haben sich solch ein kostbares Gericht je geleistet!“---
    Und er verzehrte, Gram, Trotz, Zorn, Kummer und Leid im Herzen wälzend, aber einer gewissen antiken Würde nicht entbehrend, den Edlen von Rottenweiler vor den Augen seiner Familie bis aufs letzte Knöchelchen.

    *

    Die junge Witwe mit der Trikotagenfabrik schien zu der Ansicht gelangt zu sein, daß sie auch ohne Herrn van Dorn leben könne. Anders ist es wohl nicht zu erklären, daß Herr Joseph Klapfenberg in seiner Morgenpost einen eingeschriebenen Brief von Herrn van Dorn fand, den er nur zögernd öffnete. Was Jo in ihren Gesprächen mit Lothar Lockner so oft befürchtet hatte, trat nicht ein, er bekam keinen Schlaganfall, obwohl er der Statur und dem Gewicht nach dazu neigte. Länger als eine Stunde saß er in seinem kleinen Privatkontor stumm und starr vor seinem Schreibtisch, legte den Brief schließlich in die Schublade, sperrte sie sorgfaltig zu und benutzte den Kontorausgang zum Hof, um von niemandem gesehen und angesprochen der Madonna in der Lourdes-Kapelle einen Besuch abzustatten.
    Heimgekehrt erledigte er zunächst gewissenhaft den übrigen Posteinlauf und ließ dann durch ein Lehrmädchen seine Tochter in sein Kontor rufen. Ihm war das, was innerlich in ihm vorging, so wenig anzumerken, daß Jo noch, als sie ihm gegenüber Platz genommen hatte, der Meinung war, es handle sich um

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