Es bleibt natürlich unter uns
Aldenberg seit langer Zeit bestehenden Tauben- und Hühnerzüchtervereine sich zusammenschlossen — viribus unitis — und dem Initiator dieser Interessenvereinigung, Gymnasialdirektor Wagenseil, den Vorsitz anvertrauten. Der Verein gedieh unter seiner Führung zu hoher Blüte und gelangte innerhalb Aldenbergs und überall in der Welt der Geflügelzüchter zu Namen und Ansehen. Im Vereinslokal, einem Hinterzimmer der Realwirtschaft zum ,Blauen Bock’, hingen die Diplome so dicht an den Wänden wie Bilder in alten Galerien, und ein großer Glasschrank barg die Fülle der Pokale, Medaillen und sonstigen Siegespreise. Sofern es seine Zeit erlaubte, beteiligte sich Dr. Wagenseil an jeder Ausstellung, die zwischen Passau und Trier und Flensburg und Konstanz stattfand. Jetzt hatte in München sein Orpingtonhahn ,Prinz von Plessenburg’ eine stolze Goldmedaille gewonnen, und die Leidenschaft des Züchters hatte den Gymnasialdirektor dazu verführt, den Sieger der Ausstellung, den herrlichen ,Edlen von Rottenweiler’, gegen einen Betrag zu ersteigern, der unerhört war und die Summe, die Dr. Wagenseil von seinem Gehalt für sein Steckenpferd abzweigte, eigentlich bei weitem überstieg. —
„Ich habe gerade noch zehn Zeilen im Lokalteil frei“, sagte Lothar Lockner und starrte auf das Telegramm.
„Viel zuviel für den Schmarrn“, knurrte der Alte, „aber warten Sie, Lockner, damit Sie nicht sagen, ich stänker Ihnen nur die Bude voll, setz ich sie Ihnen gleich auf...“, und er diktierte Fräulein Klühspieß innerhalb einer Minute genau elf Zeilen in die Maschine.
Das gleiche Telegramm, das der ,Anzeiger’ erhalten hatte, traf zur gleichen Stunde in der Wohnung von Dr. Wagenseil ein. Er teilte seiner Gattin Mathilde darin seinen Erfolg und seine Erwerbung mit und bat sie anschließend lapidarisch, wie es nun einmal das Telegramm verlangt, ,Robert Guiscard schlachten und seinen Stall für den soeben ersteigerten ,Edlen von Rottenweiler’ neu auskalken zu lassen. Robert Guiscard war ein Hahn, der — äußerlich ein Blender — den züchterischen Erwartungen in keiner Weise entsprach, weil er seinen Verpflichtungen auf dem Hühnerhof nur sehr lässig nachkam. Frau Wagenseil, eine kurzsichtige Dame mit sehr flachen Körperformen, die ihrem Gatten zwei Kinder geschenkt hatte, den Sohn Pylades und die Tochter Iphigenie, teilte zwar die Leidenschaft ihres Mannes für die edle Einfalt und stille Größe des Hellenentums, konnte sich aber für seine Geflügelzucht nicht begeistern. Als das Telegramm aus München ein traf, war sie seit zwei Tagen ohne dienstbaren Geist, denn das Mädchen Sophie hatte sich den Samstag und Sonntag frei genommen, um die Hochzeit ihres einzigen Bruders auf einem Bauerngut in der Nähe von Siegsdorf mitzufeiern. Frau Wagenseil konnte keine Fliege töten, geschweige denn, ein Huhn schlachten. Pylades, der von Herzen gern sämtlichem Geflügel seines Vaters die Kragen abgedreht hätte, weil die Aufgabe, Ställe auszumisten und für Futter zu sorgen oft genug ihm übertragen wurde, weigerte sich, dieses Geschäft bei einem lumpigen Hahn zu besorgen und bequemte sich schließlich höchst widerwillig dazu, Robert Guiscard wenigstens in einen anderen Verschlag zu sperren und den kleinen Stall, den dieser Versager bisher bewohnt hatte, für den angekündigten Ausstellungssieger flüchtig zu säubern und frisch zu kalken. Derweil schrieb Frau Wagenseil ein paar Worte auf einen großen Zettel und legte diesen auf den Küchentisch, wo Sophie ihn am Morgen finden würde: „Morgen Huhn mit Reis! Robert Guiscard schlachten!“
Direktor Dr. Wagenseil traf spät in der Nacht aus München ein, sperrte den Prinz von Plessenberg in seinen alten Verschlag, und den ziemlich nervösen Edlen von Rottenweiler in den frischgekalkten Stall des zum Tode verurteilten Robert Guiscard. Dann schlich er auf Socken ins eheliche Schlafgemach.
Am Montag gab es also Huhn mit Reis, ein Grund für die Wagenseilkinder, mit langen Zähnen an den Tisch zu kommen, denn Hühnerfleisch, zumal von zumeist ziemlich zähen und überalterten Gockeln war für sie so reizlos wie für Konditorskinder ein Stück alten Streuselkuchens. Für den Herrn des Hauses hatte das Mädchen Sophie ein saftiges Kotelett gebraten, denn wenn der Direktor auch, wie bemerkt, seine Erzeugnisse nicht anrührte, so versäumte er es doch nie, die Qualität seiner Zucht zu prüfen. Er hob also den Deckel der Terrine, in der Robert Guiscard abgerupft und
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