Es blieb nur ein rotes Segel
nach der Vorstellung in seiner Hofloge und tätschelte ihr die Wangen.
»Se haben vorzüchlich gehupft!« sagte er voller Gnade. »Een Vergnüchen warsch mir! Gommen Se bald wieder …«
Chamitja Maximowitsch bekam sogar einen sächsischen Orden. Er legte ihn zu den anderen, er hatte genug davon. Sie paßten auch nicht zu seinen Anzügen und seinem unrasierten Gesicht.
Am 9. April 1896 erreichte ein Telegramm aus St. Petersburg Matilda Felixowna in der Oper von Madrid. Es kam aus dem kaiserlichen Haus, abgesandt vom neuen Generaladjutanten des Zaren.
»Die Krönung Seiner Majestät, des Zaren, findet am 9. Mai dieses Jahres in St. Petersburg und in Moskau statt. Für den 9. Mai ist eine Festaufführung von ›Schwanensee‹ geplant. Der Zar wäre glücklich, Matilda Felixowna tanzen zu sehen.«
Boris Davidowitsch reichte das Telegramm wortlos an Matilda weiter. Sie las es und sah Soerenberg ebenso stumm an.
Nun ist es soweit, hieß dieser stumme Blick. St. Petersburg ruft mich. Rußland ruft mich. Der Zar ruft mich. Niki …
Was soll ich tun, Borja? Hilf mir, bitte …
Soll ich wieder vor Niki tanzen?
»Wir fahren mit dem Expreß am 22. April nach St. Petersburg«, sagte Soerenberg mit völlig ruhiger Stimme. »Natürlich wirst du bei der Krönung tanzen. Unser Zar ruft uns … wir sind Russen und gehorchen.« Er nahm das Telegramm aus Matildas schlaffer Hand und faltete es zusammen.
»Freust du dich?«
»Ich … ich weiß es nicht, Borja …«
»Es ist eine Aufführung wie alle«, sagte Boris Davidowitsch. »Zufällig findet sie in St. Petersburg statt. – So mußt du denken, Matilduschka! Außerdem wird Chamitja das höchste Honorar fordern, das je für eine Tänzerin bezahlt worden ist! Du schenkst dem Zaren nichts …«
Matilda Felixownas Rückkehr erregte kein Aufsehen. Nur ihre Mutter, die sichtbar dünner gewordene Rosalia Antonowna, und der Zwerg Mustin standen auf dem Bahnsteig, als der Expreßzug aus Warschau eintraf.
Fast vier Tage lang waren Matilda, Boris und Chamitja von Madrid unterwegs gewesen. Müde, aber unendlich glücklich, fiel Matilda ihrer Mutter um den Hals und weinte vor Freude. Boris Davidowitsch fiel sofort auf, wie sehr sich die Bondarewa verändert hatte.
Während Mutter und Tochter sich immer wieder umarmten und küßten, flüsterte er Mustin zu:
»Was ist mit ihr los? Sie sieht so anders aus. Viel dünner! Macht es der Kummer, daß Matilda so weit weg war?«
»Nicht nur das!« Mustins Gesicht war sehr ernst und voller Sorge. »Der Arzt hat sie dreimal untersucht. An der Auszehrung leidet sie, hat er gesagt. Ausgerechnet sie! Aber es ist so … In ihrem Inneren, am Magen, wächst etwas und nimmt ihr die Kraft aus dem Körper. Der Arzt hatte auch einen Namen dafür: Krebs! Und er sagte: Operation ist sinnlos. Da kann man nichts mehr tun! Zu spät. Aber es ist immer zu spät. Zuerst merkt man gar nichts, und wenn man etwas spürt, ist die Krankheit bereits so weit fortgeschritten, daß sie nicht mehr aufzuhalten ist. Von Heilung kann man überhaupt nicht sprechen! – Das sagte mir der Arzt.«
Mustin verzog schmerzvoll das Gesicht. »Sie weiß es nicht! Man hat ihr gesagt, es seien nur die Nerven. Das glaubt sie, das sieht sie sogar ein. Es gibt nichts, was sie nicht aufregt und zum Schimpfen reizt.«
Im Stroitskypalais waren die Räume mit Blumen geschmückt. Der alte Kutscher küßte Matilda die Hand und weinte vor Glück, sie noch einmal zu sehen.
Vom Zaren war keine Nachricht gekommen. Kein Blumengebinde, kein Brief.
»Er weiß, daß du kommst«, sagte Mustin. »Er hat sich genau erkundigt. Mehr kann er jetzt nicht tun. Die Vorbereitung der Krönung, das Glück über sein erstes Kind …«
Matilda nickte stumm. Sie hatte es in Rom gelesen: Im November 1895 war die Großfürstin Olga zur Welt gekommen. Die Fotos hatten einen strahlenden Zaren gezeigt und eine blasse, schöne, sanft lächelnde Zarin. Ein wunderbares Paar.
Matilda hatte das Foto lange betrachtet und dann die Zeitung weggelegt. Merkwürdigerweise tat der Anblick des glücklichen Zaren nicht mehr weh … sie freute sich sogar über die kleine Olga, ließ sich zum Petersdom fahren und opferte eine große Kerze für das Kind.
In der Ballettschule unterrichtete immer noch Tamara Jegorowna mit der gewohnten Strenge und Mütterlichkeit.
Neue Talente wuchsen heran, die große Karrieren versprachen, wenn die jungen Mädchen und Männer die innere Kraft besaßen, sich nach oben zu tanzen. Das heißt in
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