Es blieb nur ein rotes Segel
Kette, deren Endglieder zersägt waren. Matilda sah sie fragend an, und Tschuptikow erklärte mit seiner rauhen Stimme:
»Man hat sie mir in Moskau wieder aufgeschnitten. Sechs Jahre habe ich sie getragen, bis Tschita! Ich bin einer der wenigen, die aus Sibirien zurückgekommen sind.«
Schaudernd setzte sich Matilda unter die rostige Kette.
»Er spricht nicht gern darüber«, flüsterte Boris, als Tschuptikow gegangen war. »Man hatte ihn zum Tode verurteilt und dann nach Sibirien begnadigt. Einen Rittmeister hat er mit der bloßen Faust erschlagen, mit einem einzigen Schlag! Der Kopf platzte auseinander wie eine weiche Tomate. Wasja kam vom Markt zurück, wo er einkaufte, und was sieht er? Seine Frau Rajetschka liegt mit dem Rittmeister auf dem Bett. Damals wog er noch zweihundertvierzig Pfund, aber für Rajetschka war es anscheinend doch zuviel. Seitdem hat er keine Frau mehr, und er wird immer dicker. Er sagt, er sei jetzt glücklich, – aber wer glaubt das?«
Einen Hummer zu essen, ist gar nicht so einfach. Es gibt Leute, die schlagen mit der Faust darauf; und was an den Seiten herausquillt, betrachten sie als eßbar. Das aber sind die Barbaren unter den Essern … Die feinen Leute zerlegen einen Hummer, als seien sie Chirurgen und müßten Stück um Stück eines Körpers präparieren. Da wird gehackt und gesogen, gelutscht und herausgegraben, auseinandergezerrt und gespalten mit einer Ernsthaftigkeit, die an eine religiöse Tätigkeit erinnert. Daran also erkennt man den gebildeten Menschen: Er betrachtet einen Hummer noch als Gottesgabe.
Matilda machte getreulich alles nach, was sie bei Boris sah, aber als sie die Hälfte ihres Hummers verzehrt hatte, fragte sie leise:
»Und das soll nun etwas ganz Besonderes sein? Boris Davidowitsch, Sie müßten einmal zu uns kommen, wenn Mama Dorsch kocht! Oder wenn sie Seezunge brät – in Butter, mit Speck gespickt. Dazu gibt es Kartoffeln, in gehackten Haselnüssen gewälzt. Aber das können Sie nicht kennen, das ist sicherlich zu ordinär für Sie!«
»Ich werde es bei Ihnen essen, Matilda!«
Boris hob sein Glas; sie tranken einen hellen, ziemlich sauren Weißwein zum Hummer, der Matilda auch nicht besonders gut schmeckte. Er gehörte aber dazu, wie Boris versicherte.
»Ich werde alles kosten, was Ihre Mutter kocht. Sie ist eine fabelhafte Frau!«
Er blickte Matilda erstaunt an. Sie hatte sich von einer Sekunde zur anderen verändert. Ihr Gesicht wurde bleich und ihre Augen weiteten sich, als sähe sie etwas Schreckliches. Den Rücken durchgedrückt, wie erstarrt, saß sie da und kniff die Lippen zusammen.
»Was haben Sie, Matilda?« fragte Boris von Soerenberg erschrocken. »Habe ich Sie beleidigt? Habe ich etwas Dummes gesagt? Ich weiß nicht, was es sein könnte, aber ich bitte Sie um Verzeihung.«
»Es kommen neue Gäste«, sagte sie stockend. Ihre Stimme klang wie gebrochen. »Zwei Herren und zwei Damen …«
Boris hob die Schultern. Hinter sich hörte er Stimmen und Lachen. »Sie kennen sie, Matilda?«
»Nur einen. Er ist es … Mein Gott, er ist es wirklich! Lassen Sie uns schnell weggehen, Boris Davidowitsch.«
»Natürlich bleiben wir! Warum sollen wir flüchten? Wer ist es? Der Zarewitsch inkognito?«
Matilda schüttelte den Kopf. »Ich flehe Sie an, Boris … lassen Sie uns gehen! Bitte …«
Der Leutnant drehte sich spontan um und warf einen Blick auf die neuen Gäste. Noch mehr erstaunt als vorher, wandte er sich wieder Matilda zu. Sie zitterte, obwohl sie sich alle Mühe gab, es zu verbergen.
Du mußt Nerven haben, hatte die Jegorowna gesagt! Nerven! Nerven aus Stahl! Du bist so schön, daß du nur damit heil durchs Leben kommst …
»Was erschreckt Sie so?« Boris schenkte sich Wein ein. »Es sind nette Leute. Sie kommen immer, fast jeden zweiten Tag …«
»Er ist es«, sagte Matilda tonlos. »Der mit dem grauen Anzug ist es. Der Graf …«
Durch Boris rann es eiskalt. Er zog wie frierend die Schultern hoch und umklammerte die Tischkante.
»Der mit der Troika …?«
»Ja.«
»Irren Sie sich nicht, Matilda?«
»Ich werde dieses Gesicht nie vergessen können …«
»Sie müssen sich irren …«
»Unmöglich! Jetzt –, wie er lacht … So hat er gelacht, als er mit den Pferden auf mich zugaloppierte. Er wollte mich umbringen, weil ich mich weigerte …«
»Das ist kein Graf.« Boris' Stimme war tonlos geworden. »Das ist Fürst Valentin Wladimirowitsch Kramskoj … einer der besten Freunde des Zarewitsch.«
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