Es blieb nur ein rotes Segel
wie ein paar Schritte – dem Schicksal entgegen. Ganz merkwürdig wurde es Boris zumute, als Matilda ihren Arm um seinen Nacken legte. Ganz langsam ging er mit ihr von der Troika weg, so langsam, wie es möglich war, nur um sie recht lange in seinen Armen zu halten, ihren Körper zu spüren, ihren Atem an seiner Wange zu fühlen, den zarten Druck ihres Armes in seinem Nacken zu genießen.
Eigentlich bin ich ein rechter Schuft, dachte Boris Davidowitsch. Ein elender Lump! Kümmere mich um dieses zarte Geschöpf nur einer Bitte wegen, sie vom Interesse des Zarewitsch abzuhalten! Nur ein Dienst ist es – weiter soll es nichts sein! Eine Abschirmung vor dem russischen Thronfolger! Sie soll sich an mich gewöhnen, um nicht an den anderen zu denken. Wie gemein ist das alles. Wie hinterhältig!
Aber ist es wirklich so?
Hat sich die Welt für mich in diesen zwei Wochen nicht verändert? Was denkst du denn, wenn du sie ansiehst? Was fühlst du, wenn du sie berührst? Was spricht in dir, wenn du sie lachen hörst? Welche Freude ist in dir, wenn sie dir mit ausgestreckten Armen entgegenkommt?
Boris Davidowitsch, gestehe es nur ein: Du liebst sie! Du hast sie in deine Gedanken eingegraben! Wenn du am Morgen erwachst – woran denkst du? An deinen Dienst bei den Husaren etwa? An dein Pferd? An Gott, den Zaren, den Zarewitsch? An dein Vaterland?
Nein! Nein, du denkst beim ersten Augenaufschlag nur: Guten Morgen, Matilduschka! Wann sehe ich dich wieder, mein Engel?
Und später, beim Bericht vor Seiner Kaiserlichen Majestät? Im Zimmer von Mustin, dem Zwerg, der immer nur fragt: »Hast du sie noch nicht geküßt? Was – noch nicht? Ein kalter Fisch bist du! Oh, hätte ich deinen Körper, sähe ich aus wie du … Ich wäre der glücklichste Mensch und hätte Matilda an meiner Seite! Du enttäuschst mich, Husarenleutnant!«
In diesen Stunden denke ich immer nur: Wenn ihr alle wüßtet, wie es in mir aussieht! Du, mächtiger Zarewitsch, würdest mich in Ketten nach Sibirien verdammen, und du, kluger Zwerg, würdest Purzelbäume vor Freude schlagen. Und dann kommt die Furcht über mich: Was wird Matilda sagen, wenn sie je erfährt, daß meine Gegenwart nur die Ausführung eines Befehls ist? Verachtung wäre das geringste, was sie mir entgegenbringen würde …
Wie es Boris Davidowitsch erzählt hatte, so geschah es: In der dicken Tür öffnete sich eine Klappe, ein dickes Gesicht erschien und zwei muntere Augen musterten die Ankömmlinge.
»Wach auf, du Mammut!« rief Boris fröhlich. »Ich will den besten Hummer haben, der jemals in Petersburg gekocht wurde!« Und zu Matilda sagte er leise: »Erschrick bitte nicht zu sehr, wenn du Wasja Kyrillowitsch gleich sehen wirst! Weder platzt er, noch ist er ein Ballon, der sich gleich in die Luft erhebt. Es wird immer ein Rätsel bleiben, wie normale Beine so einen Körper überhaupt tragen können.«
Boris hatte nicht übertrieben. Der gute Tschuptikow war ein Riese und er besaß einen Leibesumfang, der jeden normalen Menschen nur zum Rätselraten und Staunen anregen konnte: Wie war so etwas überhaupt möglich?
Ein Graf Warwitzky aus dem Permer Land, unendlich reich durch Pelztierzucht, hatte einmal gewettet, wie schwer Tschuptikow sei. Als die Wette bei 5.000 Goldrubeln stand und die Wetter ins Schwitzen gerieten, weil Warwitzky bei seiner Behauptung blieb, Wasja Kyrillowitsch wiege – ohne Kleider – seine guten 400 Pfund, da ließ es selbst Tschuptikow keine Ruhe mehr.
Er verriegelte Fenster und Türen bis zum Hinterausgang, führte seine bis zum äußersten gespannten Gäste in die Scheune zu einer Viehwaage, zog sich bis auf die nackte Haut aus, was durchaus kein erfreulicher Anblick war, und stellte sich auf das Wiegebrett. Der Graf schob selbst die Gewichte herum, seufzte dann, faltete die Hände und gab sich geschlagen.
Erst bei 448 Pfund und 290 Gramm blieb der Wiegebalken endlich in der Geraden. Es war kaum glaublich, aber eine gute Viehwaage lügt nicht … sie zeigt höchstens weniger an, wenn man eine Kuh kaufen will. Es stecken Rätsel in den Waagen; hier aber war nicht mehr zu deuteln: Tschuptikow war der schwerste Mann Rußlands. Es war verständlich, daß er keine Frau hatte, denn jedes Weibchen lief davon aus Angst, unter diesem Felsblock zermalmt zu werden.
Wasja Kyrillowitsch begrüßte Boris wie einen Freund, zwinkerte Matilda zu und führte sie an einen Tisch in einer Ecke. Über ihnen an der Holzwand hing eine Ikone des heiligen Pimen und eine rostige
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