Es blieb nur ein rotes Segel
nur ein Mensch zu sein, so einfältig glücklich wie der geringste Kulak …, darum will ich bei Ihnen sein. Ich bitte Sie: Retten Sie mich von der grausamen Erwartung, immer nur der kommende Zar zu sein …«
»Ich? Ausgerechnet ich? Was kann ich denn tun, Niki?«
»Nur gegenwärtig sein … einige wenige Stunden vergolden … ein Zufluchtsort für mich sein, wo mich niemand findet … Ich brauche Sie Matilda Felixowna.«
Fast drei Stunden später brachte Boris Davidowitsch in der neuen Schlittentroika Matilda nach Hause.
Der Zarewitsch war vorher abgefahren, nachdem er durch einen Bühnenausgang die Oper verlassen hatte. Niemand, der noch auf den Straßen St. Petersburgs unterwegs war, ahnte, daß in der einfachen Kalesche, die langsam über die vereisten Straßen holperte, der russische Thronfolger saß.
Seine einzige Begleitung war der Zwerg Mustin Fedorowitsch Urasalin.
Matilda Felixowna saß dick eingemummt in Fellen und hatte den Kopf weit zurückgelegt. Der Himmel war sternenklar, und Sternenkälte fiel auch über das Land. Die langhaarige Pelzmütze ließ von ihrem schmalen Gesicht nur die Augen und die kleine Nase sehen. Über den Mund war ein wollenes Tuch gelegt; jeder Atemzug gefror sofort und erstarrte zu weißen Kristallen.
»Er liebt mich, Boris …«, sagte Matilda leise.
»Ich weiß es.«
Soerenberg starrte auf den Rücken des Kutschers. Die Glöckchen an dem runden Gespann klingelten hell, die Pferde trabten und dampften aus den Nüstern. Er saß neben Matilda, in einen Wolfspelz gewickelt.
»Er sagt, er braucht mich.«
»Wenn der Zarewitsch das sagt, muß man es glauben.«
»Irgendwie ist er aber unglücklich. Er würde am liebsten gar kein Zar werden.«
»Aber er wird es müssen!«
»Mehr sagst du nicht dazu? Du liebst mich doch auch …«
»Das ist etwas ganz anderes, Matilda. Unsere Liebe wird bis zu unserem Tod dauern …«
Sie nickte und legte den Kopf an seine Schultern. »Ich verstehe …« Ihre Stimme war durch den vereisten Schal, das Klingeln der Glöckchen und das Trappeln der Pferde kaum zu verstehen.
»Ich werde – eine Episode sein …«
»An nichts anderes solltest du denken, auch wenn du Nikolai Alexandrowitsch liebst.«
»Ich weiß nicht, ob ich ihn liebe, Boris.«
»Aber ich weiß es.«
»Und das kannst du ertragen? Das kannst du einfach so sagen?«
»Wir sind wie ein Stück Erde, Matilda. Die Erde lebt von Regen und Sonne, von Wind und Dürre, von Hitze und Frost, sie reißt einmal auf – und sie schließt sich wieder, sie ist leblos und grau, und plötzlich grünt sie wieder, sie läßt Stürme über sich hinwegbrausen wie einen vernichtenden Brand … und hat doch immer wieder die Kraft, von neuem Früchte hervorzubringen. Selbst eine Wüste ist nicht tot – sie beginnt mit neuem Leben, wenn Wasser in sie eindringt.«
Er beugte sich über sie, küßte ihre Augen und bezwang sich, nicht zu schreien: Das ist ja alles Lüge! Dumme Rederei! Selbstbetäubende Ironie! Ich könnte den Zarewitsch auf meinen Degen spießen, wenn ich daran denke, daß er dich küßt …
Aber er schrie es nicht, er lehnte sich zurück, starrte in den eisigen Sternenhimmel und sagte laut:
»Ich will nur, daß du glücklich bist. Heute, morgen, immer! Das wird meine Lebensaufgabe sein.«
»Ich werde dir das nie danken können.«
»Es genügt mir, wenn du da bist …«
Im Stroitskypalais herrschte helle Aufregung. Rosalia Antonowna stürzte ihrer Tochter entgegen, stieß ein wahres Geheul aus und drückte Matilda an sich.
»Was hat er dir angetan, mein Schwänchen?« jammerte sie. »Soll ich ihn verfluchen? Wir armen Untertanen, nur gehorchen dürfen wir, sogar im Bett! Boris, was stehst du herum und schaust stumm in die Gegend? Wie ein Schafsbock sieht er aus! Tue etwas, bereite eine Revolution vor, sprenge die ganze Zarenbrut in die Luft! O wenn ich als Mann geboren wäre! Komm, mein Liebling, sei ganz ruhig, mein Täubchen, ruhe dich aus! Seht ihr denn nicht, daß sie einen Schock erlitten hat? Der Zarewitsch hat ein junges Leben zertreten! Wie hat es angefangen, mein Vögelchen? Erzähle, befreie dich von dem inneren Druck …«
»Mit Kaviar und Champagner …«, sagte Matilda matt. Sie setzte sich auf ein Sofa und streifte die Pelzmütze ab.
In der plötzlichen Wärme tauten die Eiskristalle. Das Schmelzwasser lief ihr aus den Haaren übers Gesicht. Es sah aus, als weine sie …
Boris Davidowitsch warf seinen Pelz in eine Ecke und ging zu einem Tisch, auf dem in
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