Es blieb nur ein rotes Segel
schon mit anderen Blicken an als vor einer halben Stunde.
»Meine Mutter hat mir einmal erzählt, was ihr eine Magd anvertraut hat«, erzählte Matilda. Die ersten Schlucke des Rotweins durchrannen sie wie ein warmer Strom – sie spürte es im ganzen Körper.
»Oben – im Norden soll es gewesen sein, auf einem Gut, das sich Nowolandorska nannte. Es gehörte einem Grafen Michail Leontonowitsch Probinsky. Er war einer der letzten, der bei sich die Leibeigenschaft abschaffte. Die Magd – Maruta hieß sie … Ich habe das alles so gut behalten, weil Mama gesagt hat: ›Vergiß es nicht. Es kann dir genauso ergehen in dieser verdammten Welt!‹ – Also, Maruta war jung und hübsch, Tochter eines Holzfällers des Grafen. Eines Tages sah Graf Probinsky zufällig Maruta auf dem Feld, sie hackte Rüben. Er rief sie zu sich, lud sie in seine Kalesche, fuhr sie auf das Gut, und als sie ihm auswich, weil er sie berühren wollte, gab er ihr Rotwein zu trinken. Maruta kannte keinen roten Wein, sie glaubte also, was der Graf sagte –, es sei ein Fruchtsaft aus dem Süden. – Als Maruta zu sich kam, lag sie zu Hause in der Holzfällerhütte, ihr Vater weinte bitterlich, zeigte ihr einen Goldrubel und knirschte: ›Wenn ich dich doch nur erschlagen könnte! Wenn ich es doch könnte! Aber man kann doch nicht sein eigenes Fleisch und Blut mit einem Knüppel erschlagen!‹ Maruta starb dann an der Geburt ihres Kindes, ihr Vater erwürgte den Enkel, kaum daß er atmete, und wurde später dafür gehängt. Meine Mutter sagte: ›Merk dir das, Matilda! Wenn ein feines Herrchen dich zum Wein einläd, mußt du eines wissen: Wenn ein solches Herrchen mit dir Wein trinkt, dann will er dich nur betäuben! Nichts anderes hat er im Sinn! Und dann geht er weg, sagt nicht einmal Danke schön und läßt dich mit deiner ungewissen Zukunft allein!‹«
Sie erhob ihr Glas und prostete dem Zarewitsch zu.
»Auf diesen Abend, Niki! Ich habe keine Angst …«
»Es ist nicht so, Matilda!« Nikolai stocherte in seinem Essen herum. »Ich muß unbedingt mit deiner Mutter sprechen.«
»Warum sitzen wir hier?« fragte sie.
Der Zarewitsch erschrak. »Welch eine Frage!«
»Der zukünftige Zar ißt heimlich mit einer kleinen Tänzerin seines Balletts. Man kann nicht sagen, daß so etwas üblich ist … auch nach einer Premiere nicht.«
Der Thronfolger legte sein Besteck hin und sah Matilda mit seinen verträumten Augen ein paar Atemzüge stumm an.
Dann sagte er:
»Was wollen Sie hören, Matilda?«
»Ich habe gelernt, immer die Wahrheit zu sagen. ›Sag sie, auch wenn man dich nachher erschlägt …‹«
»Empfahl Ihre Mutter … Sie muß eine wunderbare Frau sein.«
»Mama? Wunderbar? Ich weiß es nicht. Ihr ganzes Leben war Umsichschlagen! War ein Kampf ums Überleben. Wir sind zwei von den Hunderttausenden Ihres Volkes, Niki, die für jeden satten Magen ein inniges Gebet sprechen, weil niemand weiß, ob er morgen auch satt werden kann. Mama sieht die Welt anders als Sie … aber ob das wunderbar ist …?«
»Ich habe nach unserer ersten Begegnung immer an Sie denken müssen«, sagte der Zarewitsch. »Ich habe Sie von diesem Tag an nie aus den Augen verloren … ich wußte immer, was Sie taten.«
»Mustin, der Zwerg, hat alles berichtet.«
»Und Boris Davidowitsch. Ich weiß natürlich, daß Sie in das Stroitskypalais gezogen sind, daß Soerenberg einen Troikaschlitten gekauft hat … Ich muß Ihnen sagen –, ich habe vor Eifersucht gezittert!«
»Niki!« Sie starrte ihn entsetzt an.
»In meinen Gedanken, in meiner Seele, in meinen Träumen waren Sie immer bei mir, Matilda. Ist das eine genügende Antwort auf Ihre Frage, warum wir heute hier zusammensitzen? Es soll ein Beginn sein … Ich wünsche mir noch viele Abende mit Ihnen, Matilda. Nicht in einer Theatergarderobe … Bei Ihnen, im Stroitskypalais, oder bei meinen Freunden im Zarskoje Selo. Ich … ich muß Sie sehen!« Er schob abrupt seinen Teller weg. »Es ist so blöd, so etwas über einer Fasanenbrust auszusprechen! Lachen Sie über mich, Matilda – jetzt habe ich es wirklich verdient!«
»Und was wird der Hof sagen?« fragte sie stockend. »Der Zar? Die Zarin? Die Großfürsten …?«
»Leben die alle mein Leben?«
»Aber – Sie sind Rußland, Niki!«
»Das verlangt man von mir.« Nikolai Alexandrowitsch blickte Matilda beinahe flehend an. »Ahnen Sie, wie unmenschlich diese Last sein kann? Um sie abzulegen, um ihr für wenige Stunden zu entfliehen, um ab und zu einmal
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