Es blieb nur ein rotes Segel
mehr im Bett, – sie saß in einem hohen Lehnstuhl, eingewickelt in einen pelzbesetzten Morgenmantel, als sei es bitter kalt, und blätterte in einem Journal.
Als Boris Davidowitsch eintrat, ließ sie die Zeitschrift zu Boden fallen und starrte ihn an, als käme er aus einer anderen Welt. Er stürzte zu ihr, umfaßte sie und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sie fühlte sich kalt an, wie mit Eis überzogen. Eben noch hatte er geglaubt, Rosalia Antonowna übertreibe in ihrer bekannten Art, aber jetzt begriff er mit Schrecken, daß Matilda wirklich ein Mensch war, dessen Lebenswillen erkaltet war und der auf das Ende wartete.
Eine ganze Weile sprachen sie kein Wort miteinander … er streichelte sie nur, küßte ihre geschlossenen Augen, den zusammengepreßten Mund, die eisigen Lippen und verstand nur zu gut, daß die Bondarewa in ihrer Einfalt nach einer Revolution schrie und alles vernichten wollte, was in Palästen lebte.
Matilda sprach zuerst. Sie sagte müde: »Wie lange bist du schon in Petersburg?«
»Vor zwei Stunden sind wir angekommen.«
»Wie sieht sie aus?« fragte sie leise. Ihre Augen bettelten um Wahrheit.
»Wer?« Soerenberg kniff die Lippen zusammen.
Als er das Wort ausgesprochen hatte, merkte er, wie dumm er gewesen war.
»Sieht sie aus wie auf den Fotos? Oder sind die retuschiert?«
»Alice von Hessen ist eine bemerkenswerte Dame«, sagte Boris Davidowitsch vorsichtig. »Hübsch … das kann man nicht sagen. Aber sie bezwingt durch ihr Lächeln, ihr Wesen, ihre Melancholie, ihre Klugheit und ihren Ehrgeiz.«
»Sie hat also alles, um eine Zarin zu sein …«
»Das weiß man noch nicht.«
»Ist sie schöner als ich?«
»Wie könnte das möglich sein, Matilda?«
»Muß er sie heiraten? Verlangt es der Zar?«
»Das ist eine verzwickte Geschichte, mein Liebling.«
»Erzähle sie!«
»Das darf ich nicht.« Boris Davidowitsch setzte sich ihr gegenüber und holte aus dem Husarenrock ein schmales Kuvert. Sie verfolgte seine Hand mit den Blicken und krampfte die Finger ineinander. »In ein paar Monaten wird man mehr wissen … Bitte, versuche nicht, in mich zu dringen: Ich darf nichts sagen.« Er hielt den Brief hoch. »Ich soll dir etwas überbringen.«
»Von ihm?«
»Ja.«
»Willst du, daß ich ihn annehme und lese?«
»Es ist ganz allein deine Entscheidung.«
»Was wäre dir lieber, Borja?«
»Sag zu mir: Wirf ihn in den Kamin!«
Matilda nickte schwach.
Mit bebender Stimme wiederholte sie: »Wirf ihn in den Kamin.«
Soerenberg stand auf, warf den Brief des Zarewitsch ins Feuer und ließ ihn in den Flammen aufgehen. Dann kam er zu Matilda zurück, küßte sie und hielt ihre kalten Händen fest.
»Was du machst, ist ein Fehler, Matilda«, sagte er nun zärtlich. »Du willst nicht mehr leben, du wartest darauf, daß dein Herz stillsteht. Das ist falsch! Genau das Gegenteil wäre richtig: Balle die Fäuste und beiße die Zähne zusammen, reiße alle Energie in dir empor – und lebe! Lebe mit einem wilden Trotz dem Schicksal gegenüber, lebe für deine Kunst, lebe für die Tausende, die eine Matilda Felixowna sehen wollen, überall auf der weiten Welt, lebe für deine von Gott dir übertragene Aufgabe: Musik in Bewegung umzusetzen, die Seele der Melodien zu verwandeln in sichtbaren Ausdruck! Sage dir immer: Ich bin Matilda Felixowna … Ich werde einmal der Welt größte Tänzerin heißen … Das ist mein Leben! Nicht die Stunden mit einem Mann, der mir nie gehören darf. Sei stolz! Er ist der Zar über ein Volk – du bist die Königin des Tanzes und hast dadurch auch Macht über Millionen Menschen! Wer ist mehr – nun sag es! Wer ist größer? Nikolai Alexandrowitsch oder Matilda Felixowna?«
»Was soll ich tun, Borja?«
»Tanzen – tanzen – tanzen, daß die Menschen den Atem anhalten, wenn sie dich tanzen sehen!«
»Ich kann keinen einzigen Schritt mehr machen.«
»Weil du nicht willst.«
»Ich bin wie gelähmt.«
»Weil du dir nie gesagt hast, daß du die Menschen beherrschst, nicht der Zar! Zeig es ihnen!«
Er ging zu dem kleinen weißen Pianino, das in der Ecke neben dem hohen Fenster stand, klappte es auf und legte die Hände auf die Klaviatur.
Matilda schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann nicht, Borja!«
»Was soll ich spielen? Das große Solo der Svanhilde?«
»Nein! Bitte nicht! Ich schreie, wenn du es spielst.«
Boris Davidowitsch spielte.
Es war nicht partiturgetreu, so genau konnte er ›Schwanensee‹ nicht aus dem Gedächtnis spielen, aber es waren
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