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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sofort zu Matilda! Sofort! Ich habe Angst um sie!« Wer nicht genau hinhörte, konnte glauben, der Zar habe seinem Offizier einen scharfen Befehl gegeben.
    »Da seid ihr ja alle!« rief Matilda ekstatisch. Sie hatte einen Spitzenmantel übergeworfen und rieb die nackten Fußsohlen aneinander. »Tamara, mach die Flaschen auf! Wir haben keine Gläser? Was macht uns das? Bei uns trinkt man auch den Schnaps aus der Flasche, nicht wahr, Mütterchen?«
    »Sei nicht so ordinär!« sagte Rosalia Antonowna streng. Ausgerechnet sie! »Ich schäme mich ja für dich …«
    »Die Flaschen auf!« wiederholte Matilda und klatschte in die Hände.
    Mustin entkorkte die erste Champagnerflasche, es knallte laut, der schäumende Champagner spritzte hoch in die Luft. Matilda riß dem Zwerg die Flasche aus der Hand, setzte sie an den Mund und trank. Die Bondarewa schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
    »Man kreide mir das nicht an!« rief sie. »Meine Erziehung ist das nicht! Ich werde rot vor Scham!«
    »Nun du, Borja!« Matilda hielt Soerenberg die Flasche hin. »Nimm einen kräftigen Schluck, mein Liebster! Stoß mit mir an. Leg deine Lippen auf die Stelle, wo meine Lippe gelegen hat, und trink! Trink! Mustin, öffne die nächste Flasche! Heute ist ein großes Fest! Ich habe mich entschlossen, St. Petersburg zu verlassen! Ich will hinaus in die Welt! Ich will überall tanzen, wo man mich sehen will … ich bin heute neu geboren …«
    »In Demut, o Gott. Amen!« sagte die Bondarewa dumpf. »Übergießt sie mit Champagner, ihr Lieben, mein Töchterchen ist verrückt geworden.«
    »Auf dein Wohl, Matilduschka!« Boris Davidowitsch trank. Dann sagte er, während er die Flasche an die Jegorowna weitergab: »Es ist alles vorbereitet. Morgen kommt Chamitja Maximowitsch Aronow zu uns. Der große Impresario Aronow, der alle Opernhäuser der Welt kennt. Er wartet nur auf ein Zeichen von dir! Er hat einen ersten Vertrag für die Königliche Oper in Stockholm …«
    Ganz still war es plötzlich im Raum. Nur Matilda sagte leise: »Borja, du bist der beste Mann der Welt. Aber was wird aus dir?«
    »Ich komme mit.«
    Soerenberg nahm den Dolman von der Schulter. Es war eine symbolhafte Gebärde.
    »Ich habe heute um meinen Abschied aus der Armee gebeten. Der Zar wird selbst darüber entscheiden. Ich glaube zu wissen, wie die Entscheidung ausfallen wird …«
    Wer Chamitja Maximowitsch Aronow zum erstenmal sah oder ihm auf der Straße begegnete, hatte das Bedürfnis, ihm entweder aus dem Weg zu gehen oder ihm eine Kopeke zuzuwerfen, damit er sich rasieren oder einen Butterwecken kaufen konnte. Er sah erbärmlich aus, war schmal, fast verhungert und mittelgroß. Er lief ständig mit einem griesgrämigen Gesicht umher und war von einem Dauerhusten geplagt, der aber zu keinerlei Besorgnis Anlaß gab. Die Ärzte nannten es einen ›allergischen Husten‹, ohne herausbekommen zu haben, gegen was Aronow so sensibel reagierte. Er selbst wußte eine Erklärung, die ihm aber kein Mensch abnahm.
    Er pflegte zu sagen: »Ich bin allergisch gegen Menschen! Jeder Mensch reizt mich zum Husten! Bin ich mit Hunden oder mit Vögeln zusammen, so ist alles gut!« Aronow besaß acht Hunde und eine große Voliere voller exotischer Vögel. Sein Pech, sein ›niederdrückendes Schicksal‹, wie er es nannte, war eben sein Beruf: Er kam meistens mit Menschen zusammen.
    Und dann noch mit Künstlern, die er sowieso alle als Verrückte ansah!
    Trotzdem war er einer der berühmtesten Agenten geworden, ein Impresario, an dem kein Sänger und kein Tänzer vorbeikam, wollte er an den großen Bühnen Europas oder der Neuen Welt engagiert werden. Wer von Aronow empfohlen wurde, der bekam seinen Platz am Theater. Alle wußten: Aronow vermittelt keine Nieten! Aronows Schützlinge waren Sterne am Opern-, am Balletthimmel!
    Nun saß er zum erstenmal im Palais Stroitsky der kritischen Rosalia Antonowna gegenüber, zerknittert, hustend, erbärmlich in der Kleidung, und wurde beim Anblick dieses wuchtigen Weibes mit ihrem Riesenbusen von einer wahren Allergiewelle überspült.
    Schon Rosalias erster Satz hatte ihn umgeworfen: »Was? Sie sind Chamitja Maximowitsch? Meine Tochter ist zu schade für ein Straßentheater! Soll ich Ihnen ein warmes Süppchen bringen, Väterchen?«
    Aronow hustete heftig, winkte ab und lehnte sich in dem tiefen Sessel zurück.
    »Man kann mit prunkvoller Kleidung auch Idioten behängen«, sagte er mit seiner etwas schnarrenden Stimme. »Meistens ist es so!

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