Es blieb nur ein rotes Segel
Fenster zurück. Leise, mit bebender Stimme sagte er nach einer langen Pause mit abgewandtem Gesicht:
»Jetzt wird die Einsamkeit noch größer werden …«
Auf Zehenspitzen verließ Soerenberg das Kabinett des Zaren.
Er war den Tränen nahe und schämte sich ihrer nicht.
Es war Rosalia Antonowna unmöglich, zum Hafen der Alten Galeeren zu kommen, um ihr Töchterchen auf das Segelboot steigen zu sehen und ihr dann noch nachzuwinken. Nein, das war unmöglich!
Nach vier Tagen Packen, Umherrennen, Herumschreien und Jammern war die Bondarewa am Ende ihrer Nerven, weinte nur noch, zerriß ihren Schal, wie es sonst nur Witwen tun, und schien dann wie gelähmt. Jeder sah ein, daß man sie in dem Zustand nicht zum Hafen transportieren durfte, denn dort würde es für sie nur zwei Möglichkeiten geben: Entweder brach ihr das Herz, oder sie sprang ins Wasser und versuchte, Matilda nachzuschwimmen.
Beides würde ihr Ende sein.
Mustin, der Zwerg, kümmerte sich in rührender Weise um sie. Er kochte ihr Tee mit viel Rum und flößte ihr dann noch angewärmten Wodka ein, was eine – man kann es sich ausmalen! – verheerende Wirkung hinterließ. Kurz gesagt – Rosalia Antonowna war volltrunken, als Matilda und Boris sich verabschiedeten.
»Das war die einzige Rettung«, sagte der sachverständige Mustin. »Selbst mit Eisenketten hätte man sie nicht festhalten können! Gott sei mit euch! Ich werde mich um sie kümmern, das verspreche ich euch. Ich habe die Nerven, es bei ihr auszuhalten! Wen hat sie denn noch auf der Welt? Mich kann sie ruhig beschimpfen, ich kann meine Ohren zuklappen! Gott segne euch …«
Matilda küßte ihre Mutter auf das graue Haar, umarmte sie, riß sich dann los und rannte hinaus.
Auf der Fahrt ließen sie die Kutsche noch einmal vor der Kasanschen Kathedrale halten, beteten beide vor der goldenen Ikonostase und ließen sich von einem Priester, der sie nicht erkannte, wie ein bäuerliches Ehepaar segnen. Als sie zehn Rubel in den Opferkasten steckten, schlug der verblüffte Pope noch ein Kreuz als Draufgabe.
Um die gleiche Zeit fuhr Zar Nikolaus II. in Zivilkleidern, von der Offiziersschule im Menschikowpalais, die er offiziell besichtigt hatte, quer über die verschneite Insel Wassilievskoj zum Hafen der Alten Galeeren.
An einem der alten Lagerhäuser ließ er halten, stieg aus und ging allein ins Haus. Nach vorn gebeugt stellte er sich hinter ein zerbrochenes Fenster, fegte mit dem Zylinder die Spinnweben fort und blickte hinaus zur Mole.
Dort lag das kleine Segelschiff, die Segel noch gerefft. Matrosen entluden gerade eine Kutsche, die angekommen war: Koffer und Säcke – Matilda Felixownas Gepäck. Über einen schmalen Laufsteg brachten sie alles an Bord.
Der Zar atmete heftig. Er wischte sich die Augen aus, zog die Schultern zusammen und schlug den Pelzkragen seines Mantels höher. Vom Meer her wehte ein kalter Wind. Es schien tatsächlich der letzte Tag zu sein, an dem die Fahrrinne eisfrei war. In der Nacht würde sie zufrieren.
Wenig später kam die Kalesche.
Nikolaus II. beugte sich etwas vor. Er sah Matilda aussteigen; sie trug einen langen Pelzmantel. Der Kapitän des Schiffes empfing sie, rasch gingen sie an Bord. Dann folgte Boris Davidowitsch, sein Freund. Ihn begleitete ein Männchen in einem schäbigen Mantel, mit einer Strickmütze und Ohrenschützern. Es war der große Aronow.
Viel zu schnell für den versteckten Nikolaus verschwanden alle im Schiff.
Der Steg wurde eingezogen, die Taue losgeworfen, das Focksegel flatterte auf, das Schiff glitt langsam von der Mole. Und nun – endgültig vom Land befreit, zischten die Segel hoch … die mächtige Leinwand am Großmast blähte sich und leuchtete in der kalten Sonne: Es war ein rotes Segel, ein so ungewöhnlich rotes Segel, daß Nikolaus II. sich weiter aus dem zerbrochenen Fenster beugte und zu dem Segel hinstarrte.
Majestätisch glitt das Schiff aus dem alten Hafen in die Fahrrinne. Gegen den blauen Winterhimmel hob sich das rote Segel scharf ab, ein riesiger Blutfleck, dessen Farbe sich im Wasser und auf dem Eis widerspiegelte.
Mein Herzblut, mußte Nikolaus wehmütig denken. Ein Tropfen meines Herzbluts fährt mit dir, Matilduschka.
Der Zar von Rußland könnte jetzt weinen wie ein hingefallener Junge, der sein eigenes Blut fließen sieht. Matilda, möge Gott dich in seine Arme nehmen …
Er hob verlegen die Hand und winkte dem roten Segel nach.
Das ist alles, was von dir bleibt, dachte er. Der letzte Blick –
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