Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
politischen Auseinandersetzungen« am Bildschirm verfolgten, beschäftigte der Student schon zwei Dutzend Angestellte, unter anderem seine Eltern, die beide arbeitslos geworden waren. Er musste nicht mehr selbst nach China fliegen. Die Pioniere der neuen russischen Marktwirtschaft handelten auf eigene Faust, sozusagen ohne Gewähr. Keiner von ihnen besaß anfangs ein Konto bei einer Bank, sie mussten ihre Gewinne daher in großen Koffern mit sich herumtragen und die Umsätze in der Badewanne bunkern. Später, als der Student sein Geld doch in
eine Bank bringen wollte, hatte er Transportprobleme. Eine lange Freitreppe führte in diese Bank, ungefähr fünfzig Stufen. Der Student parkte vor dem Eingang und lief mit zwei Geldkoffern die Treppe hinauf. Zweimal wurde er dabei um alles erleichtert, was er besaß. Die Sicherheitskräfte der Bank, die hinter der Glastür standen, beobachteten diese Raubüberfälle von oben, rührten aber keinen Finger. Die Treppe gehörte nicht zum Sicherheitsbereich des Geldinstituts. Erst wenn es jemand heil durch die Tür geschafft hatte, wurde er als Geschäftspartner betrachtet.
Meinen Schulkameraden haben diese Verluste nicht abgeschreckt, leichten Herzens fing er jedes Mal wieder von vorne an. An Möglichkeiten Geld zu verdienen mangelte es nicht. Damals standen in Russland quasi an jeder Ecke herrenlose Koffer voller Scheine herum, die nur darauf warteten, dass einer über sie stolperte. Nachdem die Computer keine großen Gewinne mehr abwarfen, wandte sich der Student dem Reisemarkt zu. Er eröffnete mehrere Reisebüros und schickte seine Landsleute für wenig Geld nach Ägypten und Tunesien. Die richtig Wohlhabenden ließ er nach Frankreich fliegen, wo er an der Cote d’Azur mehrere kleine Pensionen pachtete, die er mit russischen Köchen und Satelliten-Antennen ausstattete,
damit seine Gäste auch am Mittelmeer die heimischen Seifenopern im Fernsehen weiterverfolgen und sich auch sonst in Frankreich wie zu Hause fühlen konnten.
In der älteren Generation entwickelten sich ebenfalls erstaunlich viele zu großen Geschäftsmännern. Einen, Alexander Iwanowitsch, habe ich vor zehn Jahren selbst kennengelernt, als ich mit meiner Frau zusammenzog. Die Ehe wird oft unterschätzt. Der Glückliche denkt dabei nur an die schöne Frau, die Ja zu ihm gesagt hat; er ahnt nicht, dass er mit der Eheschließung zwangsläufig auch ein Stück fremde Vergangenheit erbt: all die Freunde, Verwandten und Bekannten, ehemaligen Liebhaber, Halbonkel und Cousins seiner Frau nämlich.
Alexander Iwanowitsch besuchte uns eines Tages ohne Vorankündigung. Er kam aus Bad Vilbel bei Frankfurt am Main, wo er die Filiale eines russischen Allzweckkonzerns mit dem lustigen Namen »Russian Metal Export Royal« leitete, der unter anderem Stahl und Buntmetall an deutsche Abnehmer verkaufte. Alexander Iwanowitsch hatte keinerlei Gepäck dabei, nicht einmal eine Zahnbürste, nur einen nagelneuen BMW, drei Anzüge, die hinten in seinem Wagen hingen, eine russische Wirtschaftszeitung, eine Stange Marlboro-Zigaretten und eine Penny-Markt-Plastiktüte
mit hunderttausend Mark in Fünfziger-Scheinen.
Mir wurde Alexander Iwanowitsch von meiner Frau als ein Freund aus der Vergangenheit vorgestellt. In ihrem früheren Leben hatte meine Frau ein katran in Sankt Petersburg, damals noch Leningrad, unterhalten: ein untergründiges Spielkasino. Offiziell waren Glücksspiele im Sozialismus verboten, außer einer staatlichen Lotterie, die einmal in der Woche stattfand. Dort konnte man mit sechs Richtigen den Hauptpreis, ein sowjetisches Auto der Marke Lada, ergattern. Im katran gingen jeden Abend ein Dutzend solcher Autos über den Tisch. Das Kasino befand sich in einer Sackgasse im Zentrum der Stadt, in einer speziell dafür angemieteten und umgebauten Vierzimmerwohnung im Erdgeschoss. In den verdunkelten Räumen mit schweren Gardinen vor den Fenstern und sperrigen alten Möbeln saßen Nacht für Nacht etwa zwei Dutzend Männer und spielten Karten, vor allem Poker. In der Küche gab es mit Käse belegte Brötchen, Mineralwasser und Schnaps – gratis.
Trotz hoher Sicherheitsmaßnahmen, Einlassparolen, die sich jede Woche änderten, und einem Aufpasser, der am Küchenfenster Schmiere stand, flog das Kasino immer mal wieder auf. Polizisten stürmten
die Räume und durchsuchten alles. Doch das Glücksspiel war schwer nachweisbar, alle Absprachen fanden mündlich statt, alle Auszahlungen erfolgten grundsätzlich außerhalb des
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