Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
Mannes, den er sich recht groß vorstellte, beunruhigte ihn weniger als das übermäßig sanfte Timbre der Stimme von Adamsberg. Seine Antwort auf Danglards Frage war einfach gewesen. Als er noch Student der Tieranatomie gewesen war, hatte er Gelegenheit gehabt, an Seminaren von Madame Forestier teilzunehmen. Das war überprüfbar. Zu der Zeit hatte es keinen Grund gegeben, irgend jemandem etwas Böses zu wollen, und er hatte Madame Forestier in ihrer intelligenten und verführerischen Art geschätzt und nie ein Wort der Vorträge, die sie gehalten hatte, vergessen. Später hatte er alles aus jenem Leben löschen wollen. Aber als der Mann in der Hotelhalle auf die »grande dame des Meeres« angespielt hatte, war die aufsteigende Erinnerung alles in allem doch so angenehm gewesen, daß er den Wunsch verspürte, herauszufinden, ob es sich wirklich um sie handelte und was man ihr wohl vorwerfen mochte. Reyer begriff, daß Danglard überzeugt schien. Dennoch fragte Danglard ihn, warum er das Adamsberg gestern nicht erklärt habe und warum er Mathilde nicht gesagt habe, daß er sie bereits vor ihrer »zufälligen« Begegnung in der Rue Samt-Jacques kannte. Auf die erste Frage hatte Reyer geantwortet, er wolle nicht, daß Adamsberg ihm das Dasein zu sehr verkompliziere, und auf die zweite, ihm liege nichts daran, daß Mathilde ihn mit jenen ewigen Studenten verwechsle, die, älter geworden, zu Dienern der Dame geworden seien. Nein, das nicht.
Im großen und ganzen nicht viel zu holen, sagte sich Danglard. Der übliche Haufen Halbwahrheiten, der die Dinge in die Länge zog. Die Kleinen würden enttäuscht sein. Aber er warf Adamsberg dieses zähe Verrinnen der Tage vor, das nur jeweils am Morgen durch einen neuen Kreis unterbrochen wurde.
Er hatte den ungerechtfertigten Eindruck, daß Adamsberg einen schlechten Einfluß auf dieses Verrinnen der Zeit hatte. Das Kommissariat selbst war inzwischen von dem besonderen Verhalten seines Kommissars geprägt. Castreaus Wutanfälle ohne wirklichen Anlaß wurden seltener, und die Dummheiten aus dem Mund von Margellon ließen nach - nicht, daß der eine weniger brutal und der andere weniger blöd gewesen wäre, aber es schien irgendwie nicht mehr nötig zu sein, sich das Leben schwerzumachen, indem man die ganze Zeit redete. Im großen und ganzen - aber das war nur ein Eindruck, der vielleicht seinen eigenen Sorgen entsprang - waren Auseinandersetzungen und belanglose Übertreibungen aller Art seltener geworden, sie waren weniger erforderlich und wurden durch einen sorglosen Fatalismus ersetzt, der ihm jedoch gefährlicher vorkam. Alle Männer schienen mit großer Ruhe die Segel ihres Schiffes einzuholen, ohne sich über ihre vorübergehende Untätigkeit aufzuregen, wenn der Wind sich legte und die Segel unbeweglich ließ. Die alltäglichen Arbeiten gingen ihren Gang, gestern drei Überfälle in ein und derselben Straße. Adamsberg kam und ging, verschwand und kehrte wieder, ohne daß das jetzt noch Kritik oder Aufregung hervorgerufen hätte.
***
Jean-Baptiste ging früh schlafen. Er schickte sogar die junge Nachbarin von unten weg, ohne sie zu kränken, wie er meinte. Und doch hatte er sie heute morgen dringend zu sehen gewünscht, um auf andere Gedanken zu kommen und von einem anderen Körper zu träumen. Aber am Abend dachte er an nichts anderes mehr, als so schnell wie möglich einzuschlafen, ohne Frau, ohne Buch, ohne Gedanken.
Als das Telefon in der Nacht klingelte, wußte er, daß es nun gekommen war, das Ende des Auf-der-Stelle-Tretens, der Sprung; er wußte, daß jemand tot war. Margellon war am Apparat. Auf dem Boulevard Raspail, in jenem ruhigeren Teil, der zur Place Denfert führt, war einem Mann die Kehle durchgeschnitten worden. Margellon war mit der Mannschaft des 14. Arrondissement vor Ort.
»Und der Kreis? Wie ist der Kreis?« fragte Adamsberg.
»Der Kreis ist da, Kommissar. Sehr sorgfältig gezeichnet, als ob der Typ sich viel Zeit gelassen hätte. Die Inschrift drumherum ist ebenfalls vollständig. Wieder dieselbe: ›Victor, sieh dich vor, was treibst du jetzt noch vor dem Tor?‹ Mehr weiß ich im Augenblick nicht. Ich erwarte Sie.«
»Ich komme. Wecken Sie Danglard. Sagen Sie ihm, er soll schnellstmöglich herkommen.«
»Vielleicht ist es nicht unbedingt nötig, alle Welt zu stören?«
»Ich wünsche es«, sagte Adamsberg. »Sie ebenfalls«, fuhr er fort, »bleiben Sie ebenfalls.«
Das hatte er hinzugefügt, um ihn nicht zu kränken.
Adamsberg
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