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Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Titel: Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord Kostenlos Bücher Online Lesen
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versprochen, am Mittwoch wieder im Stichling zu sein, um die Dias fertig zu ordnen. Sie ahnte sicherlich schon, daß ihre Schneiderfreundin sie nicht allzulange bei sich behalten wollte. Sie war ganz schön hellsichtig, die alte Clémence. Wie alt mochte sie eigentlich sein? fragte sich Mathilde. Sechzig, siebzig vielleicht. Aber ihre dunklen, an den Rändern roten Augen und ihre spitzen Zähne machten jede Schätzung unmöglich.
    Charles hatte auch die ganze übrige Woche einen häßlichen Ausdruck auf seinem schönen Gesicht zur Schau getragen, und Clémence war nicht wiedergekommen, wie sie es versprochen hatte. Die Dias, die gerade klassifiziert werden sollten, lagen auf dem Tisch herum. Charles als erster meinte, das sei beunruhigend, aber es wäre ja nicht sonderlich traurig, wenn die Alte irgendeinem Mann im Zug gefolgt und um die Ecke gebracht worden sei. Mathilde hatte einen kurzen Alptraum. Und Freitag abend, als die Spitzmaus noch immer nicht zurückgekehrt war, war sie fast entschlossen, die Schneiderin zu suchen und anzurufen.
    Dann kreuzte Clémence wieder auf. »Scheiße«, sagte Charles, der sich auf Mathildes Couch niedergelassen hatte und mit den Fingerspitzen die Seiten eines Buches in Blindenschrift abtastete. Mathilde war trotz allem erleichtert. Als sie ihnen jedoch zusah, wie sie beide von ihrem Zimmer Besitz ergriffen, er in all seiner Pracht auf ihrer Couch ausgestreckt, seinen weißen Stock vor sich auf dem Teppich, sie, wie sie ganz selbstverständlich ihren Nylonmantel auszog, wobei sie die Mütze auf dem Kopf behielt, da sagte sich Mathilde, daß in ihrem Haus irgend etwas nicht ganz stimmte.
     
    ***
     
    Adamsberg sah, wie Danglard um neun Uhr in sein Büro kam, einen Finger an die Stirn gepreßt, aber in einem Zustand wirklicher Erregung. Er ließ seinen langen Körper in den Sessel fallen und atmete heftig.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich bin außer Atem, ich bin gerannt, um herzukommen. Ich habe heute morgen in Marcilly den ersten Zug genommen. Es war nicht möglich, Sie zu erreichen, Sie haben nicht zu Hause geschlafen.«
    Adamsberg breitete die Arme aus, wie um zu sagen: Was soll ich tun, man sucht sich die Betten, in denen man morgens aufwacht, nicht immer aus.
    »Die geniale alte Dame, bei der ich gewohnt habe«, sagte Danglard zwischen zwei keuchenden Atemzügen, »hat Ihren Doktor gut gekannt. So gut gekannt, daß er ihr so einiges anvertraut hat. Das wundert mich nicht, eine wirklich feinsinnige Frau. Gérard Pontieux ist, wie sie sich ausdrückte, gegenüber einer eher häßlichen, aber durchaus reichen Apothekerstochter Verpflichtungen eingegangen. Er brauchte Geld, um seine Praxis aufzumachen. Dann hat ihn die Sache in letzter Minute aber angewidert. Er hat sich gesagt, wenn er so schändlich anfangen würde, brauchte er gar nicht erst zu hoffen, eine ordentliche Karriere als Arzt zu machen. Also hat er das Mädchen am Tag nach der Verlobung fallenlassen und ihr feige ein kleines Briefchen geschickt. Kurz, nicht weiter bedeutend, nicht wahr? Nicht weiter bedeutend, wenn man von dem Namen des Mädchens absieht.«
    »Clémence Valmont«, sagte Adamsberg.
    »Exakt«, erwiderte Danglard.
    »Begleiten Sie mich«, sagte Adamsberg und drückte seine gerade begonnene Zigarette im Aschenbecher aus.
     
    Zwanzig Minuten später standen sie vor der Tür des Hauses Rue des Patriarches 44. Es war Samstag, und sie hörten keinerlei Geräusch. Bei Clémence antwortete niemand an der Gegensprechanlage.
    »Versuchen Sie es bei Mathilde Forestier«, sagte Adamsberg, ausnahmsweise fast gespannt vor Ungeduld.
    »Jean-Baptiste Adamsberg«, sagte er in die Gegensprechanlage. »Öffnen Sie, Madame Forestier. Schnell.«
    Er lief bis zum Fliegenden Knurrhahn im zweiten Stock, und Mathilde öffnete die Tür.
    »Ich brauche einen Schlüssel von oben, Madame Forestier. Einen Schlüssel zur Wohnung von Clémence. Haben Sie einen zweiten?«
    Mathilde ging, ohne Fragen zu stellen, und holte einen Schlüsselbund, dessen Anhänger mit »Stichling« beschriftet war.
    »Ich begleite Sie«, sagte sie mit einer Stimme, die am Morgen noch rauher war als tagsüber. »Ich mache mir Sorgen, Adamsberg.«
    Sie betraten alle drei die Wohnung von Clémence. Nichts war mehr da. Keine Spur von Leben, kein Kleidungsstück am Kleiderständer, keinerlei Papiere auf dem Tisch.
    »Miststück, sie ist abgehauen«, sagte Danglard.
    Adamsberg ging im Zimmer umher, langsamer als je zuvor, sah auf seine Füße und

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