Es geht uns gut: Roman
zurück, der Abstand zu ihnen verringert sich langsam. In dem Moment richtet sich der Fahrer neben Philipp von seinem Lenkrad auf, im Halbschlaf sieht er die näher kommenden Schlußlichter, sein Gesicht verzerrt sich, er stemmt sich gegen das Lenkrad und tritt voll auf die Bremse, die aber nicht reagiert. In noch größerer Panik, dem näher kommenden LKW im nächsten Moment hinten draufzuknallen, tritt der Fahrer mit aufgerissenem Mund zwei weitere Male voll auf die Bremse. Aber auch diesmal tut sich nichts. Der Fahrer will das Lenkrad herumreißen. Im selben Moment packt Philipp ihn an der Schulter und ruft (hier sind Varianten möglich):
– Wir stehen, Mann, wir stehen!
Freitag, 1. Juni 2001
Am Morgen ist Philipp müde und zerschlagen, sein Kopf dröhnt wie ein Glockenturm. Er bringt sich die längste Zeit nicht aus dem Bett, so steif fühlt er sich, so elend. Ohne wieder einschlafen zu können, bleibt er unter der Decke liegen, bis alles still geworden und der Mercedes weggefahren ist. Dann sitzt er ungewaschen, unrasiert, mit ausgebranntem Kopf, irgendwie weggetreten, obwohl er Kaffee für zwei trinkt, augenreibend und gähnend auf der Vortreppe und fühlt sich vom heißen Wetter geohrfeigt. Das notiert er in sein aktuelles Heft, dann schaut er einigen Schülern zu, die vorne an der Straße vorbeigehen. Er denkt an die unverwechselbaren Gerüche von Spitzabfällen und verschütteter Tinte, die immer vom Grund seiner Schultasche hochgestiegen und ihm deutlich im Gedächtnis geblieben sind. Er denkt an das Schönschreibheft, das er in der Schule hatte. Er schaut auf die Tauben, auf ihr schnörkelloses, geschäftsmäßiges Fliegen in dem Segment aus Garten und Himmel, das er von seinem Platz aus überblickt. Er gähnt. Er wartet, ob etwas geschieht. Er wartet, ob die Postbotin auch heute wieder mit ihm schlafen wird.
Die Postbotin kommt. Auch eine Postbotin sagt Bedeutsames:
– Zu mehr reicht die Zeit nicht.
Sie lacht verängstigt und zieht rasch ihre Hosen hoch.
Als Philipp sie nach draußen begleitet, stellt er fest, daß sich eine Taube ins Stiegenhaus verirrt hat. Der zerzauste Vogel sitzt geduckt, die korallroten, schuppigen Füße in den Handlauf des Geländers gekrallt, einen halben Meter über der Kanonenkugel, und schaut Philipp mit seinen kleinen, schmutzig-orangen Augen an. Einen Moment lang ist Philipp unschlüssig, was er zuerst tun soll. Schließlich entscheidet er sich dafür, zunächst die Postbotin zum Tor zu geleiten. Sie sind beide benommen und mutlos, ein wenig verlegen. Ihrer beider Abenteuerlust hat Sprünge bekommen. Zur Ablenkung erzählt Philipp von dem Tag zwei Jahre nach dem Tod seiner Mutter, als ihn sein Vater dazu überredete, dem Briefträger zu helfen, die Telefonbücher auszutragen. Das war bei knietiefem Schnee und aus Gründen der Familienräson. Philipp sollte am Abend hundemüde sein, damit sein Vater zu einer Nachbarin gehen konnte, ohne fürchten zu müssen, daß der Sohn mitten in der Nacht aufwacht. Philipp lacht und hebt die Schultern, eine Geste, die gleichermaßen seinem Vater und der Postbotin gilt. Sie küssen einander zum Abschied, wie schon an den vergangenen Tagen im Schatten der Mauer. Dann kehrt Philipp ohne Eile ins Haus zurück und scheucht die Taube durch die Eingangstür ins Freie.
Die Taube fliegt aufs Dach. Der Kaffee wird kalt. Die Sonne verglüht. Philipp sitzt mit einem Butterbrot auf seinem gewohnten Platz, wo es um diese Tageszeit eigentlich schon nicht mehr auszuhalten ist. Er kann sich zu nichts entscheiden. Er studiert das Wandern der Mittagsschatten. Er kratzt an einem Insektenstich unterhalb des linken Knies. Kratzt ihn langsam weg. Geh in Steinwalds Zimmer, das so tadellos in Ordnung gehalten ist, schau dort aus dem Fenster oder aus dem hinteren Fenster im Schlafzimmer der Großmutter, deinem Lieblingsfenster. Geh in die Lainzer Straße und hol die Fotos ab, die längst fertig sein müssen.
Philipp redet sich zu.
Und bleibt auf der Vortreppe sitzen.
Er überlegt, was Steinwald und Atamanov gerade machen, wo sie sich herumtreiben. Und wo Johanna bleibt. Er würde Johanna gerne anrufen, aber er traut sich nicht, weil er Angst hat, sie zu stören oder einzuengen oder den Anschein zu erwecken, etwas zu wollen oder gar zu erwarten. Er weiß aus Erfahrung, wie es normalerweise endet, wenn er Johanna anruft, ohne eine klare Vorstellung zu besitzen, was er damit bezweckt (etwa Anspruch auf ihre Gefühle erheben). Deshalb reißt er sich
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