Es geht uns gut: Roman
nicht mehr. Nur ein Haus mit Garten.
Also doch Heimweh, möchte Richard mit einer gewissen Genugtuung attestieren. Aber auch das verkneift er sich. Er hat sich gut in der Gewalt, er weiß, daß Ingrid immer das letzte Wort haben wird, schon allein, weil sie jünger ist. Das ist ihr Trumpf.
Alma gibt die Truhe frei. Auch diesmal lenkt sie umgehend auf ein anderes Thema, diesmal zum Gesundheitszustand diverser Nachbarn, wo dieser zu wünschen übrigläßt. Ohne Widerstreben beteiligt sich Ingrid an der Konversation. Eine Gallenkolik, der Krebs häuft sich, hat mit den Nerven zu tun. Richard geht unterdessen seinem sich sichtlich unwohl fühlenden Schwiegersohn beim Hinaustragen der Truhe zur Hand. Peter bedankt sich zweimal, er berichtet, daß der VW-Bus von einem Arbeitskollegen geliehen sei und wie gut er (Peter) sich beim Kuratorium für Verkehrssicherheit eingelebt habe. Er kommt darauf zu sprechen, daß er ein fotografisches Gesamtverzeichnis aller relevanten Kreuzungen der Republik erstellen werde, plus Statistik aller Unfälle, die sich auf diesen Kreuzungen ereignet haben. Mal sehen, was dabei herauskommt. Nachdem Richard zuvor zweimal »So, so« gesagt hat, steuert er jetzt ein »Interessant, interessant« bei.
Sie kehren ins Haus zurück, dort steigen die Frauen gerade die Treppe hoch. Richard und Peter schließen sich an. Jetzt trägt Alma das Enkelkind, es blickt mit dem Kinn auf Almas rechter Schulter auf Richard herab, der sich am Ende des Handlaufs mit der linken Hand an der Kanonenkugel aufstützt. Richard fühlt sich angezogen von Sissis Blick. Mit plötzlichem Herzklopfen gewahrt er, daß auch er Spuren in diesem Mädchen hinterlassen hat. Diese Vorstellung weckt in ihm einen trotzigen Stolz. Einige Stufen lang ist ihm, als behalte er in seiner Enkelin recht, auch dann noch, wenn es ihn nicht mehr gibt. Aber einen Augenblick später bleibt der Stolz auf halber Treppe zurück, und ein Stich des Bedauerns erinnert ihn daran, daß er im Alltag dieses Kindes nicht oft vorkommen wird. Zu Neujahr und zur Marillenernte, so das Wetter den Marillen gnädig war. Als nicht weniger demütigend empfindet er, daß Ingrids Familie ausbaufähig ist, während ihm seine eigene Familie Stück für Stück abhanden kommt.
Er hat sich bemüht, richtig zu leben, zu handeln, zu denken, zu fühlen, dem Gewissen gemäß, nach den Regeln, die ihm seine Eltern beigebracht haben. Er hat getan, was getan werden mußte, was bei weitem nicht jeder von sich sagen kann. Sein Handeln war stets vom Gedanken an das Wohl der anderen getragen. Trotzdem ziehen sich alle von ihm zurück.
Sie setzen den Rundgang fort. Anfänglich ist Ingrid auch im oberen Stockwerk wählerisch. Das ändert sich, als die Kinderzimmer an der Reihe sind. Mit einmal ist Ingrid bester Stimmung, sie freut sich, die Möbel in Ottos Zimmer wiederzusehen, und bittet um die komplette Einrichtung, den kleinen, in blassem Türkis gestrichenen Schrank, der staksig auf seinen ganz gerade geschnittenen Kirschholzbeinen steht, das Bubenbett mit dem Flechteinsatz im Kopfteil, den Tisch, die beiden Stühle und die gleichfalls türkis gestrichene Kommode, deren mittleres Schubfach Sissi unter Einsatz ihres kleinen Körpers herausziehen will.
Richard könnte wetten, daß es Alma um Ottos Zimmer besonders leid tut. Vom Sorgenstuhl ins Heulzimmer und retour, das hat sich erledigt. Er beobachtet Alma. Sie ist kontrolliert. Wie so oft drängt sie ihre Gefühle zurück, ohne sich etwas anmerken zu lassen (Richards Eindruck). Sie wagt lediglich die Frage, ob Ingrid und Peter weiteren Nachwuchs planen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn er diese Frage stellen würde, Richard.
– Solange ich mit dem Studium nicht fertig bin, keine Idee, sagt Ingrid: Das Studium hat jetzt eindeutig Vorrang.
Ingrid öffnet die Schranktüren. Ein Geruch nach Mottenpulver breitet sich aus. C 10 H irgendwas . Richard würde die chemische Formel gerne anbringen, aber sie fällt ihm nicht ein. Und auch die lexikalische Bezeichnung ist ihm im Augenblick gerade entfallen.
– Welche Prüfung kommt als nächstes? fragt er.
– Das wird sich zeigen.
– Du wirst doch hoffentlich wissen, welche Prüfung als nächstes kommt?
– Och.
Ingrid dehnt es unbestimmt.
Da wölbt Richard, als wäre er überrascht von dem, was er hört, die linke Augenbraue, seine Lippen werden schmal, und Ingrid erinnert sich gerade noch rechtzeitig, daß sie vor allem erst einmal die Prüfung ablegen muß, wie sich’s
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