Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
zischte Sigi verächtlich. »Überhaupt, Kriminale!«
»Sag nichts gegen die Polizei, Sigi.«
»Er hat mir übrigens erzählt, dass er studiert hat.«
»Der Kriminalkommissar?«
»Ja, Kakabe.«
Karl verschlug es die Sprache. »Mist«, schimpfte er schließlich. »So ein Mist. Muss man denn unbedingt studieren?«
Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich habe in den letzten Wochen mehrmals mit Coudi gesprochen. Der ist in Ordnung. Er speist dich nicht ab. Du kannst ihn fragen, was du willst, er hört dich wenigstens an. Nur auf eine Frage, da hat er mir keine Antwort gegeben.«
»Auf welche Frage, Karl?«
»An dem Tag, als du zum ersten Male fortbleiben musstest, da hat er in der Bibelstunde einen Abschnitt genommen, der eigentlich gar nicht an der Reihe war. Er hat vom Kaiphas erzählt und von seinen Worten, dass es besser ist, wenn ein einziger Mensch für das ganze Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. Dann hat er uns angesehen, als ob wir ihm alles erklären sollten. Schließlich meldete sich Hein Derko und sagte: ›Gut und schön. Aber Jesus war doch unschuldig.‹
›Eben!‹, antwortete Coudi und schloss die Bibelstunde.
Später habe ich ihn gefragt, warum er gerade dieses Stück erzählt hat. ›Das musst du schon selber herausfinden‹, hat er geantwortet und war ganz kurz angebunden.«
»Hast du es denn herausgefunden?«
»Du etwa nicht?«
Sigi zuckte die Achseln. »Fräulein Duttmeier hat deinetwegen auch Streit mit dem Rektor. Ich kam gerade durch den Flur, als sie wütend aus seinem Zimmer rannte. Er kam ihr bis zur Tür nach und rief: ›Machen Sie bitte keinen unnötigen Ärger, Fräulein Duttmeier, bitte keinen Ärger.‹ Er war ganz rot im Gesicht. In ihrer Klasse muss die Dutt dann gesagt haben, sie halte es für ganz und gar ungerecht, dass du von der Schule wegbleiben musst.«
»So viel Wind«, antwortete Sigi. »Herauskommen wird nichts dabei. Du siehst ja, es wird immer schlimmer.«
»Ach, mit dir ist ja heute nicht zu reden«, schimpfte Karl, lief durch den Laden und schlug die Tür hinter sich ins Schloss, dass die Klingel aufgeregt lärmte.
»Es ist nichts, Mutter«, rief Sigi zur Küche hin. »Der Karl war es.« Leise fügte er hinzu: »Der Karl, der mich heute im Stich gelassen hat.«
17
Es ist nicht wahr! Gestern hat er mich geküsst. Gestern haben wir davon gesprochen, dass wir Verlobung feiern werden, wenn erst die Mordgeschichte vorüber ist. Es ist nicht wahr!
Ruth stand in ihrer Kammer. Sie öffnete ihre Aussteuerkiste. Weißes Leinen für Tisch und Betten, Silberzeug, Porzellan. Sie wollte sich die dummen Gedanken aus dem Kopf schlagen. Wer weiß, was Herr Ulpius gehört hat. Die Leute reden so viel. Sie strich über das glatte Tuch. Von einem Silberlöffel wischte sie mit dem Schürzenzipfel ein Stäubchen. Aber warum gehe ich nicht hinüber? Dieses Leinen habe ich mit Mutter bei Kremser gekauft. Glattes Leinen. Ja, damals hatten wir noch Geld. Ich werde doch hinübergehen. Er ist in der Schmiede. Seine Mutter kommt nie in die Schmiede. Ich werde ihn ganz ruhig fragen. Wenn es so weitergeht, werde ich sicher von meiner Aussteuer etwas verkaufen müssen. Unser Gespartes ist verbraucht. – Wird er nicht verletzt sein, wenn ich ihn frage? Er denkt, ich glaube nicht an ihn. Mutter ist von uns allen eigentlich die Ruhigste. Sie hat es schwer, seit Vater weg ist. Sigi macht viel dummes Zeug. Den kleinen Jungen hat er verhauen. Sie haben es durch die ganze Stadt getragen. Die Bäuerin hat die Töpfe abgeholt. Damit hat es angefangen. Keine Arbeit, das muss wohl schlimm sein für einen Mann. Was mag er nur immer hämmern? Ich werde später hinübergehen. Es kann nicht wahr sein. Gestern hat er mich geküsst. Die Leute sind freundlicher, seit Vater weg ist. Huymann hat mich heute gegrüßt. Zum ersten Male seit Monaten. Aber warum wollte er nicht, dass sie uns beieinander sahen in der Stadt? Ich musste eher gehen. Sonst war er doch mutiger. Es hat wehgetan. Er kann den Spott nicht mehr ertragen. Ob Vater es geglaubt hat, was sie über ihn reden? Er hat so feierlich gesprochen. Held! Wer ist schon ein Held? Sigi? Ach, der. Der schlägt zu und meint, damit könne er es zwingen. Vater? Der bestimmt nicht. Angst hatte er oft genug. Getrunken hat er, weil er Angst hatte. Sicher, gestern, als sie ihn wegbrachten, da war er anders. Ich bin auch kein Held. Gibt es überhaupt jemanden auf der Welt, der mehr Angst hat als ich? Manchmal denkt man, man sollte einfach
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