Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Priebisch zum Kohlenplatz von Kupfer & Co. in der Sickingenstraße. «Heute ist noch alles ruhig geblieben, aber es wimmelt überall von Blauen.»
«Kein Wunder nach dem Mord gestern Abend.» Albert Priebisch hatte es während der Bahnfahrt nach Moabit in der Morgenausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers gelesen. «In der Zeitung steht, dass das Opfer ein Kohlenarbeiter gewesen sein soll.»
«Ja, der Paul Tilkowski.»
«Kanntest du den?»
«Klar kannte ich den, bei Kockanz hat er gearbeitet. Ein Streikbrecher. Pfui Deibel!» Dlugy spuckte auf das Trottoir.
Dlugy wurde überall freudig begrüßt. Man erzählte ihm, dass keiner von den Streikenden bereit war aufzugeben, jetzt erst recht nicht, und dass in der kommenden Nacht ein heißes Tänzchen zu erwarten sei.
Als sie in Dlugys Stammkneipe in der Rostocker Straße angekommen war, sahen sie an einem der Tische August Werner sitzen. Dlugy kannte ihn von einigen Gewerkschaftsveranstaltungen her und fragte, ob sie neben ihm Platz nehmen dürften.
August Werner war 1863 als Sohn eines Arbeiters in Storkow geboren worden, hatte den Beruf des Müllers gelernt und war dann nach Berlin gegangen, um hier als Hausdiener und Handelsgehilfe zu arbeiten. Seine Gewerkschaftskarriere hatte er 1886 mit dem Eintritt in den «Unterstützungsbund der Hausdiener Berlins» begonnen, war dann zum «Zentralverband der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter» gestoßen und hatte sich um den Aufbau einer gewerkschaftseigenen Arbeitsvermittlung verdient gemacht. Dlugy und seine Freunde versprachen sich von August Werner einiges, hatte er doch vor sechs Jahren geholfen, den Streik der Müll- und Mehlkutscher erfolgreich zu Ende zu bringen. Es begann eine heftige Diskussion.
«Ich bin entsetzt über das, was letzten Abend hier in Moabit geschehen ist», sagte August Werner und argumentierte so, wie es sich für einen Sozialdemokraten gehörte. «Was hat Liebknecht 1892 nach den Plünderungen an der Großen Frankfurter Straße ausgerufen? ‹Ehrliche Arbeiter sind keine Lumpen!› Wer Fensterscheiben einwirft und Läden plündert, der ist ein Lumpenproletarier - und die gehören nicht in die SPD.»
Dlugy widersprach ihm heftig. «Wir können doch nicht zusehen, wie die Massen diszipliniert verhungern! Die bürgerliche Welt kann man nur durch Plünderungen und Verheerungen aufrütteln. Sie muss schlottern vor Angst, dann wird sie auch höheren Löhnen zustimmen.»
«Schlottern vor Angst?», fragte August Werner. «Auch durch Morde?»
«Auch durch Morde», beharrte Dlugy, «wenn es sein muss. Denn die herrschende Klasse mordet andauernd. Ermordet uns. Dadurch, dass wir in den feuchten Wohnungen Motten in die Lungen kriegen, dass unsere Kinder an Unterernährung sterben, dass wir uns bei der Arbeit die Knochen brechen.»
«Psst!», machte August Werner, der offenbar fürchtete, in Gustav Dlugy einen Anarchisten oder gar einen Agent provocateur vor sich zu haben. «Wer zu radikal denkt, gefährdet uns.»
Jetzt mischte sich auch Priebisch ein. «Sollen die Moabiter die Säbelhiebe und die Prügel, die sie von Polizisten bekommen haben, mit dem blöden Lächeln eines russischen Muschiks dankend hinnehmen?»
August Werner trank sein Bier aus. «Wir haben die Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wir haben den Reichstag.»
Dlugy sprang auf. «Und wir haben die Schutzmänner, die Jagd auf die Arbeitslosen und die Streikenden machen - das ist wirklich ein herrlicher Staat!»
«Ich warne euch hier in Moabit!», rief August Werner. «Das ist doch alles fruchtlos.»
«Aber die Wut muss raus.» Dlugy warf ein paar Münzen auf den Tisch und zog Priebisch aus der Kneipe. «Komm, sonst muss ich noch kotzen.»
«Beruhige dich doch erst mal.»
Dlugy fing sich wieder. «Du hast ja recht. Lass uns irgendwohin ins Grüne fahren. Ich frag noch ’n paar Freunde, ob sie mitkommen, und vielleicht hat Luise auch Zeit und Lust.»
«Eine gute Idee. Und wohin: Tegel oder Schildhorn?»
«Warten wir mal ab, was die anderen wollen.»
Es dauerte fast zwei Stunden, ehe sie alle beieinander hatten, und so fuhren sie dann zu fünft nach Schildhorn hinaus: Gustav Dlugy, Albert Priebisch, Ludwig Latzke, der seinen Freund Kappe nach Berlin gefolgt war, Johannes Sprotte und Luise Waldschischeck. Auf Bahnen, Busse und Pferdefuhrwerke waren sie heute nicht angewiesen, denn Latzke hatte sich das Automobil seiner Firma ausgeliehen. Es war ein Materialwagen, in dem ansonsten immer Leitern,
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