Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Ab 18 Uhr sammelten sich an verschiedenen Punkten halbwüchsige Burschen, zu denen sich bald Frauen, Kinder und Männer gesellten. Nach und nach wuchsen diese kleinen Haufen zu größeren Mengen an. Man nahm den patrouillierenden Schutzleuten gegenüber eine aggressive Haltung ein, verzichtete aber auf jegliche Attacken. Es entspannen sich lediglich erregte Dispute. Erst als um 19 Uhr verschiedene Polizeiabteilungen unter Führung ihrer Offiziere ausrückten, zündete der Funke. Pfiffe ertönten, aufreizende Rufe wurden laut, und stellenweise stürmte die immer mehr anwachsende Menge auf die Beamten ein. Die Polizeioffiziere mussten ihre ganze Autorität aufbieten, um ihre erregten Mannschaften zurückzuhalten. Sie blickten immer wieder zum Himmel hinauf, wo dichte Wolken aufgezogen waren, und hofften auf einen Wolkenbruch, der die Leute auseinanderstieben lassen würde. Doch es blieb trocken. Die Aufrührer unternahmen erste Versuche, die Sperrketten zu durchbrechen, wurden aber von berittenen Beamten zurückgedrängt. Es blieb bei einem Geplänkel.
An der Ecke Beussel- und Thurmstraße griff die Menge einen Straßenbahnwagen an, der zum Bahnhof fahren wollte. Führer und Schaffner wehrten sich so lange, bis die Polizei erschien.
Gegen 20 Uhr kam es dann an der Ecke Wiclef- und Beusselstraße zum ersten Zusammenstoß. Unter Johlen und Schreien drang die Menge auf die Schutzleute ein und bombardierte sie mit Steinen. Daraufhin bekamen die den Befehl, blankzuziehen und zum Angriff überzugehen. Mit dem Säbel in der Hand stürmten die Beamten, von berittenen Kollegen begleitet, die Straßen hinunter, trieben die johlende Menge vor sich her und verletzten mehrere Menschen durch Säbelhiebe. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit war es gelungen, die beiden Straßen zu säubern. Dafür flammte der Kampf an der Ecke Beussel- und Sickingenstraße um so heftiger auf. Aus den Fenstern wurden Steine, Flaschen und Scherben auf die Beamten geworfen. Einem durchschlug ein Stein den Helm und verwundete ihn am Kopf. In der Erasmusstraße, wo Charlottenburger Beamte im Einsatz waren, kamen zum Steinbombardement Schüsse hinzu, die aber niemanden verletzten. Auch am Unionplatz wurde auf Offiziere und Mannschaften geschossen. Aus der zweiten Etage des Hauses Waldstraße 43 wurden mehrere Blumentöpfe heruntergeworfen. Ein Arbeiter namens Reinhardt wollte sich für vorher erlittene Verletzungen rächen. Als ein Leutnant mit seinen Männern die Wohnung stürmte, suchte ihm Reinhardts nur leicht bekleidete Ehefrau eine brennende Petroleumlampe ins Gesicht zu schleudern. Durch einen schnellen Sprung zur Seite konnte er sich retten. Das entstehende Feuer wurde von seinen Leute ausgetreten.
In der Rostocker Straße erreichten die Tumulte dieser Nacht ihren Höhepunkt. Dort demolierten die Aufrührer sämtliche Laternen auf einmal und eröffneten ein furchtbares Steinbombardement auf die Polizisten, die an der Ecke Wiclefstraße Aufstellung genommen hatten. Daraufhin schritt die Polizei zur Räumung der in völliges Dunkel gehüllten Straße. Gegen viertausend Menschen, darunter an die fünfhundert Frauen, füllten sie in ganzer Breite.
«Bluthunde!»
«Schießt die Schufte nieder!»
Die Rufe wurden immer lauter. Ein Polizeioffizier forderte die Menge auf auseinanderzugehen. Dreimal. Die Antwort war ein höhnisches Gejohle, und man fing an, die Beamten auch hier mit Steinen zu bewerfen. Im gleichen Augenblick wurden in den Mietshäusern zahlreiche Fenster aufgerissen, und ein wahrer Hagel von leeren Bier- und Seltersflaschen prasselte auf die Schutzleute nieder. Dazwischen fielen immer wieder Revolverschüsse. Mitten im Getümmel stand der Polizeipräsident von Jagow, der gegen 22.30 Uhr erschienen war, und gab Befehl, jede Widergesetzlichkeit sofort mit der Waffe zu beantworten. Nun kam das Kommando, die Schüsse aus den Fenstern zu beantworten. Auf jedes Fenster, aus dem auf die Schutzleute geschossen oder etwas geworfen wurde, richteten sich die Pistolen der Beamten, und ein lebhaftes Feuer wurde eröffnet. Der Versuch der Polizisten, in die Häuser einzudringen und die Aufrührer aus den Wohnungen und den Höfen herauszuholen, scheiterte meistens daran, dass die Haustüren jedes Mal rasch abgeschlossen wurden. Ein Teil der Aufrührer zog sich auf den Hof der Löweschen Fabrik an der Wiebe- und der Huttenstraße zurück, deren Tore vom Pförtner bereitwillig geöffnet worden waren. Bis zwei Uhr morgens wütete der Kampf. Zuletzt
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