Es gibt kein nächstes Mal
den
nächsten Brief zur Hand.
Juli 1952
Liebe Shirl,
Laurie ist wieder fortgegangen. Die Schuld liegt
ganz allein bei mir. Wenn ich ihn nicht ständig unter Druck gesetzt und ihn
gefragt hätte, wo er seine Abende verbringt, dann wäre er noch da. Die Sache
ist die, daß ich versuche, ihn zu verstehen und ihm große Freiheiten zu lassen,
aber dann bin ich manchmal plötzlich engstirnig, kleinkariert und eifersüchtig.
Ich weiß nicht, ob ich es jemals hinkriegen werde. Wenn ich mit Laurie und
seinen Freunden ausgehe, dann weiß ich, daß die Leute finden, mit mir hätte er
einen guten Fang gemacht, aber zu Hause geht manchmal alles in die Brüche, und
Laurie sagt, man merkt mir eben doch mein Alter und meine Herkunft an.
Jedenfalls geht es mir nicht übermäßig gut. Ich weiß, daß Du sagen wirst, ich
dürfte mich nicht wieder mit ihm einlassen, wenn er zurückkommt, und
wahrscheinlich hast Du recht. Aber ich kann nichts versprechen. Ich liebe ihn
so sehr, und ich weiß, daß ich die richtige Frau für ihn sein kann, wenn ich es
bloß hinkriege, diese albernen Gefühle zu unterdrücken, die mich manchmal
überkommen. Das heißt, falls er jemals wieder zurückkommt. Diesmal bin ich
nicht sicher.
Ich denke ständig an Dich und wünschte, ich
könnte Dich sehen und richtig schön ausgiebig mit Dir plaudern.
Alles Liebe,
Estella
Laurie, so schien es Gemma, zählte zu jenen
Leuten, die sich gern »die zornigen jungen Männer« nannten, was nichts weiter
war als eine andere Bezeichnung für eine Gruppe von Misogynen — Frauenfeinden,
die die Frauen, die sie liebten, systematisch fertigmachten. Von Monat zu Monat
war deutlicher zu erkennen, daß Estellas Selbstvertrauen abnahm. Der Funke
glühenden Unabhängigkeitsstrebens war noch da, doch Gemma konnte spüren, wie
die Kräfte ihrer Mutter nachließen. Nimm ihn nicht, wenn er wiederkommt, sagte
sie zu ihrer Mutter. Geh und such dir einen reizenden Menschen, der dich zu
würdigen weiß, wie Bertie. Doch sie wußte, daß Estella ihrem Vater erst Jahre
später begegnet war.
Sie nahm eine Postkarte in die Hand. Darauf war
die Sacré Coeur abgebildet.
Juli 1952
Tja, wir haben es endlich geschafft, nach Paris
zu kommen. Leo hat uns hergefahren, und wir wohnen in Montmartre, dem Viertel,
in dem die Künstler leben. Es ist eine wunderbare Stadt, und noch dazu so
romantisch. Ich könnte für immer hier leben, und daher ist es ein Jammer, daß
es nur für das Wochenende ist! Gestern haben wir vor einem Café auf der Straße
gesessen und Austern gegessen!
Grüße von Estella und Laurie
Gemma erinnerte sich an ihr Mittagessen in
Frankreich mit Ralph. Als sie an die Platte mit den Meeresfrüchten dachte,
bekam sie Hunger, doch sie wollte den Fluß der Korrespondenz nicht abreißen
lassen.
August 1952
Liebe Shirl,
Laurie hat endlich einen Termin für seine Ausstellung
bekommen. Sie wird im November stattfinden, und danach wird sich unser beider
Leben ändern. Vielleicht werden wir sogar nach Paris ziehen und dort leben. Es
ist so wunderschön dort. Ich habe beschlossen, richtig ordentliches Französisch
zu lernen, und nächsten Monat beginne ich mit Abendkursen.
Falls Du meine Postkarte bekommen hast, hast Du
Dir wahrscheinlich selbst zusammengereimt, daß Laurie zurückgekommen ist, und
diesmal wird er bleiben. Er sagt, er wird mich heiraten, falls er seine Frau dazu
bringen kann, in eine Scheidung einzuwilligen.
Ich weiß, daß Du um diese Jahreszeit besonders
viel zu tun hast, aber schreib mir doch bitte, wenn Du einen Moment Zeit
findest. Und wenn es nur eine Postkarte von dem gräßlichen Blumenbild ist! Du
fehlst mir.
Liebe Grüße
Estella
Sie hat mit Leo geschlafen, dachte Gemma.
Deshalb war der Brief so kurz. Sie hatte es ihrer Schwester mitgeteilt, ohne es
ihr tatsächlich zu sagen, und sie wollte von Shirley hören, daß es gut so war,
wollte ihren Segen haben.
Zum ersten Mal, seit sie begonnen hatte, die
Briefe zu lesen, begann sie sich zu fragen, wie Shirleys Antworten wohl
gelautet hatten. Sie wußte aus eigener Erfahrung, daß Shirleys Briefe
normalerweise sehr allgemein gehalten waren und nicht mehr als eine Seite
hatten, auf der sie etwas Fröhliches zum Wetter bemerkte. Sie konnte sich nicht
vorstellen, wie sie auf Estellas Geständnisse reagiert hatte.
Gemma war ziemlich deprimiert, als sie sich dem
nächsten Brief zuwandte. Ihr fiel auf, daß Estella im allgemeinen jeden Monat
geschrieben hatte, daß diesmal jedoch ein
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