Es gibt kein nächstes Mal
genommen alle, die
ich hier kenne, Lauries Freunde sind. Sogar Georgina hat gesagt, ich sollte es wegmachen
lassen, und zwar nicht, weil Laurie es so wollte, sondern um meiner selbst
willen als eine unabhängige Frau, hat sie gesagt. Ich bin zu Leo gegangen, weil
er immer sehr verständnisvoll ist, aber er hat einfach nur die Registrierkasse
aufgemacht und hundert Pfund rausgeholt. Ich habe die Scheine genommen und sie
mitten in seiner verdammten Galerie in zwei Hälften gerissen. Eine reichlich
teure Geste, die ich wahrscheinlich noch bitter bereuen werde, aber hinterher
war mir wesentlich wohler zumute, das kann ich Dir sagen. Ich hasse Männer,
Shirl.
Bitte komm, sobald Du kannst, weil ich Dich
etwas fragen will, was ich Dich nur persönlich fragen kann.
Deine Dich liebende Schwester Estella
Und dann klaffte eine Lücke. Gemma sah sich
sämtliche Daten der übrigen Briefe an, doch es gab erst wieder das Telegramm,
das sechs Monate später aufgegeben worden war.
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Sie hätten wissen müssen, wohin es führen würde,
wenn sie gemeinsam Briefe von ihrer Mutter lasen. Estella hatte sich wieder
einmal zwischen sie gestellt. Und das ausgerechnet in dem Moment, in dem sie
und Gemma begonnen hatten, so gut miteinander auszukommen.
Daisy schlenderte durch die Wohnung und tat
alles mögliche. Der Stapel Fotokopien im Wohnzimmer erschien ihr jetzt wie eine
besonders schwierige Hausaufgabe. Sie ertappte sich dabei, daß sie
Ablenkungsmanöver ersann, um den Moment hinauszuzögern, in dem sie ihr
Pflichtpensum in Angriff nahm.
Sie dachte immer wieder daran, wie sie das
letzte Mal Briefe von Estella gelesen hatten. Auch damals hatte Gemma auf sie
gewartet.
Sie saß in Whitton House in der Küche und
starrte ins Leere, und in den Tassen vor ihr wurde der Tee kalt, den die
Nachbarn ihr gemacht hatten.
»Eine Tasse Tee tut dir doch sicher gut!«
Jede Besucherin, die ins Haus gekommen war, hatte
dieselben Worte gesagt und war in die Küche marschiert, um sich nützlich zu
machen, hatte den schweren Kessel gefüllt und auf den Herd gestellt, ohne sich
vorher klarzumachen, wie lange es dauerte, bis darin das Wasser kochte. Dann
hatten die Betreffenden dagestanden, waren von einem Fuß auf den anderen
getreten und hatten fast komisch gewirkt, während sie sich eine halbe Stunde
lang fragten, was sie sagen sollten.
Daisy überwachte, wie die Leute vom
Bestattungsinstitut den Sarg die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus trugen.
Sie stellten ihn auf eine Art zusammenklappbaren Teewagen aus Metall, um ihn
zum Leichenwagen zu schieben. Sie erinnerte sich noch daran, daß sie sich
gesagt hatte, was für ein albernes Gerät das doch sei. Es wirkte wie etwas, was
man in den Ferien auf einen Campingplatz mitgenommen hätte. Sie hätte gern
gesagt: Bitte, können Sie sie nicht ordentlich tragen, doch sie tat es nicht.
Dann stand sie da und beobachtete, wie der
Leichenwagen den Feldweg hinunterfuhr, und noch lange, nachdem der Wagen aus
ihrer Sichtweite entschwunden war, sah sie ihm nach. Sie erinnerte sich noch
daran, daß sie sich gesagt hatte, wie wunderbar die gelben Rosen doch rochen,
die sich an der Fassade des Hauses hochrankten.
Dann ging sie wieder in die Küche. Gemma hatte
sich nicht von der Stelle gerührt.
»Sie ist fort«, sagte Daisy.
»Das habe ich gefunden.« Gemma zog zwei
Umschläge aus der Tasche ihres Kleides. »Ich werde sie der Polizei zeigen
müssen, aber ich wollte, daß wir sie vorher lesen.« Sie schob Daisy den
Umschlag mit ihrem Namen darauf über die gewölbte Platte des Refektoriumstischs
zu.
Daisy öffnete ihren Umschlag, las den Brief und
brach in Tränen aus. Sie schob ihn Gemma über den Tisch zu, damit sie ihn
ebenfalls las. »Was steht in deinem?« fragte sie schniefend.
Gemma starrte immer noch vor sich hin und hielt
das Blatt Papier in der Hand. Ihre Haut war so weiß geworden, daß sie schon
fast transparent war, und ihre Augenhöhlen wirkten dunkellila. Sie fing an,
unbeherrscht zu zittern. Daisy sprang auf und ging zu ihr, um sie in ihre Arme
zu ziehen, doch Gemma schüttelte sie gewaltsam ab, und dann stieß sie ein
Gebrüll aus, einen gräßlichen Urlaut. Daisy griff nach Gemmas Brief.
Meine liebe Gemma,
es hat nichts mit Dir zu tun. Tu mir den
Gefallen und kümmere Dich um Daisy.
Alles Liebe, Estella
Es war schon zu spät, als Daisy ihren eigenen
Brief wieder an sich nehmen wollte, denn Gemma hatte die Hand schon danach
ausgestreckt. Und als sie
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