Es gibt kein nächstes Mal
den Brief las, wurde ihr Geheul noch schlimmer. Daisy
fürchtete sich. Sie fürchtete sich sogar noch mehr als in dem Moment, in dem
sie ihre Mutter tot vor sich gesehen hatte. Es klang, als würde Gemma nie mehr
aufhören zu weinen. Daisy glaubte, sie hätte vielleicht einen Anfall. Sie wußte
nicht, ob sie einen Arzt rufen sollte. Sie fühlte sich vollkommen hilflos.
»Ich weiß, was du dir jetzt denkst«, sagte sie
immer wieder zu ihrer Schwester, »aber es ist nicht wahr. Sie hat dich geliebt.
Und Bertie hat dich unglaublich geliebt. Viel mehr als mich. Ganz im Ernst.«
Aber nichts, was sie sagte, änderte auch nur das
geringste. Schließlich stand Gemma auf und ging ins Bett, ohne ein Wort zu
sagen. Und Daisy saß die ganze Nacht über wach in der Küche, starrte die beiden
Briefe an und fragte sich, wie ihre Mutter, die sie mehr als jeden anderen
Menschen auf Erden liebte, bloß so grausam hatte sein können.
Daisy spülte die Tassen, die sich in der Küche
stapelten, und den Inhalt des Kühlschranks leerte sie in einen grauen
Mülleimerbeutel. Sie zog es vor, sich an Estella zu ihren Glanzzeiten zu
erinnern, wie sie in einem meergrünen Kleid durch die Uffizien gerauscht war
und Daisy jedes einzelne Bild zu laut erklärt hatte, was dazu führte, daß die
Leute den Blick von den Grazien auf Botticellis Frühling abwandten und
sie anstarrten.
Das dumme Mädchen, dessen Briefe so albern
klangen, verwirrte sie. Ihre Mutter war wunderschön, intelligent und vor allem
würdevoll, einfach eine Wucht; die Leute erstarrten vor Ehrfurcht. Estella
hatte große Mühen auf sich genommen, um sämtliche Spuren ihrer tristen Jugend
aus dem Gedächtnis zu löschen, und Daisy fand, das sollten sie respektieren. Es
erschien ihr aufdringlich und ungehörig, über ihr Leben in einem schäbigen,
schmutzigen Zimmer zu lesen, über Zeiten, in denen sie ein Pessar benutzt
hatte, das von jemand anderem ausrangiert worden war, und in denen es ihr
gelungen war, trotzdem schwanger zu werden. Wie hatte sie bloß so dumm sein
können? Daisy wollte es wirklich nicht genauer wissen.
Sie staubsaugte den Boden im Wohnzimmer. Dann ging
sie aus dem Haus, kaufte sämtliche Sonntagszeitungen, machte sich eine Tasse
Kaffee und setzte sich mit den Feuilletonseiten auf den Fußboden. Aus der Küche
war das langsame und stetige Tropfen zu hören, mit dem das Eis in der
Gefrierbox schmolz, während der Kühlschrank abtaute.
Sie stieß auf einen Artikel, in dem das Leben in
London in den Swinging Sixties mit dem Leben in London dreißig Jahre später
verglichen wurde. Gab es denn kein Entkommen vor der Nostalgie? Der Bericht war
mit Schwarzweißfotos von schnuckeligen Püppchen in Miniröcken illustriert,
denen Farbfotos von Safeways in der Kings Road in den Neunzigern
gegenübergestellt waren. Daisy beschloß, daß ihr die Sechziger zum Hals
raushingen, und sie hatte auch die alten Schachteln satt, die im Fernsehen über
kondomfreies Ficken und Demonstrationen in Paris redeten. All dieses Gerede
über Bewußtseinserweiterung und Frieden, aber was war in diesem ach so
bejubelten Jahrzehnt schon erreicht worden?
Sie hatte die Schnauze voll von Leuten, die
zurückblickten und sich einbildeten, die Vergangenheit sei wundervoll gewesen;
und Menschen, die versuchten, die Gründe für alles in ihrer Kindheit zu finden,
langweilten sie. Wozu sollte das alles gut sein? Sie wollte in der Gegenwart
leben und etwas Besserem in der Zukunft entgegensehen und nicht ständig in der
Zeit zurückgehen, wie Gemma es tat. Wenn Daisy ihr Leben noch einmal hätte
leben können, dann hätte sie einiges anders gemacht, aber so war es nun einmal
nicht, und damit hatte es sich.
Das war eine simple Tatsache, die Gemma jedoch
nicht zu begreifen schien. Estella war tot. Und selbst wenn Gemma glaubte,
herausfinden zu können, warum sie der Mensch war, der sie gewesen war, was, zum
Teufel, änderte das schon? Der Artikel begann vor ihren Augen zu verschwimmen,
und Daisy warf die Zeitschrift wütend von sich.
Sie beschloß, es sei an der Zeit, ihren
Schreibtisch aufzuräumen. Sie öffnete Umschläge mit Rechnungen, die eingegangen
waren, und schrieb Schecks über die jeweiligen Beträge aus. Sie stapelte die
Zeitschriften ordentlich. Sie riß ein paar alte Notizen aus ihrem Ringbuch und
warf sie in den Papierkorb. Das Band des Anrufbeantworters war vollständig
besprochen. Daisy hatte schon seit einer ganzen Weile vorgehabt, sich sämtliche
Nachrichten noch einmal
Weitere Kostenlose Bücher