Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es gibt kein nächstes Mal

Es gibt kein nächstes Mal

Titel: Es gibt kein nächstes Mal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imogen Parker
Vom Netzwerk:
wie
spät es war. Sie hatte den ganzen Tag über die Briefe gelesen, manche von ihnen
zwei- oder dreimal. Der sehr, sehr lange Brief, den Estella nach der Geburt
ihres Babys abgeschickt hatte, hatte sie zum Weinen gebracht.
    Es war der letzte lange Brief. Danach war die
Kommunikation recht sporadisch geworden. Gemma hatte nur die Briefe von
Estella, doch sie vermutete, daß Shirley die Beantwortung der Briefe
eingestellt hatte, bis 1958 ihr Vater gestorben war.
    Im Lauf dieser fünf Jahre mußte Estella sich
verändert haben. Die sarkastische Nachricht, in der sie kurz und bündig erklärt
hatte, da ihr Anblick ihrem Vater zu seinen Lebzeiten unerträglich gewesen sei,
bezweifelte sie, daß er ihr Erscheinen auf seiner Beerdigung gutheißen würde,
war im Tonfall der Estella verfaßt, die sie gekannt hatte, doch nachdem sie
jetzt wußte, was ihre Mutter durchgemacht hatte, verstand sie sie besser und
hatte Mitgefühl mit ihr. Sie wünschte, ihre Mutter würde für eine halbe Stunde
auferstehen, damit sie ihr das sagen konnte. Was nicht etwa heißen sollte, daß
sie Estella ein großer Trost hätte sein können.
    Ärgerlicherweise klafften immer noch viele
Lücken, und es gab noch so viele offene Fragen. Hatte Estella Laurie jemals
wiedergesehen? Wie hatte sie Bertie kennengelernt? Und wer war Vin? Gemma
wußte, daß sie Shirley am kommenden Wochenende noch einmal einen Besuch würde
abstatten müssen.
    Schweren Herzens schloß sie den Schuhkarton,
trug ihn nach oben und versteckte ihn unter ihrem Bett. Sie wollte ihn nicht
mehr sehen. Jetzt wollte sie Gesellschaft haben, um sich ablenken und aus der
teils eingebildeten und teils erinnerten Welt herausholen zu lassen, in der sie
den ganzen Tag verbracht hatte. Ihr platzte der Schädel, und sie war verwirrt,
als hätte sie an einem heißen Nachmittag zuviel Rotwein getrunken.
    Sie wünschte, Ralph käme jetzt zurück und hätte
einen wunderbaren Vorschlag, wo sie zusammen essen könnten. Sie sah aus dem
Fenster und rechnete fast damit, ihn auf sich zukommen zu sehen, doch draußen
waren nur die Schatten.
    Sie hob den Hörer ab und rief Jonathan an. Er
war nicht da.
    Sie probierte Kathys Nummer. Es läutete lange,
und als Gemma gerade aufgeben wollte, ging ein Mann ans Telefon. »Hallo?«
    »Roger?« fragte Gemma, weil sie wünschte, er
wäre es, doch sie wußte augenblicklich, daß er es nicht war.
    »Nein, der ist nicht da. Kann ich etwas
ausrichten?« Oliver, der sich von seiner besten Seite zeigte.
    »Könntest du Kathy sagen, daß ich angerufen
habe. Hier ist Gemma«, sagte sie.
    »Gemma! Wir können uns nicht weiterhin in der
Form nicht treffen! Es scheint, als bekämst du jedesmal, wenn du
jemanden sprechen willst, versehentlich mich an den Apparat! Die beiden sind in
Urlaub gefahren und haben mich allein hier zurückgelassen. Mir ist langweilig.
Sprich mit mir...«, befahl er ihr so fröhlich, als sei es erst gestern gewesen,
daß sie gemeinsam ein Haus bewohnt hatten.
    Der Schauer eines Déjà-vu-Gefühls lief Gemma
über den Rücken. Sie malte sich aus, wie sein langer, träger Körper auf Kathys
Habitat-Sofa zurücksank, und sie erinnerte sich wieder daran, wie er in der
Boulter Street im Vorderzimmer auf dem Sofa zusammengebrochen war und in ganz
ähnlicher Weise verlangt hatte, man solle ihn unterhalten. Damals hatte sie
sich überfordert gefühlt, als könnten ihn die Dinge, die sie sagen würde,
unmöglich interessieren. Jetzt hatte sie das Gefühl, unbedingt einhängen zu
müssen, ehe sie etwas Katastrophales sagte.
    »Erzähl mir, wie dein Leben derzeit aussieht«,
beharrte Oliver. »Wie geht es in der großen, weiten Welt der Literatur zu?«
    »Ich kann jetzt wirklich nicht reden«, sagte Gemma
eilig.
    »Aber ich dachte, du hättest angerufen, weil du
mit Kathy plaudern wolltest«, erwiderte er und nagelte sie auf diese
Unstimmigkeit fest.
    Immer noch so geistesgegenwärtig wie eh und je,
dachte Gemma. Kein Wunder, daß er Anwalt geworden ist. Ihr hätte davor gegraut,
von ihm ins Kreuzverhör genommen zu werden. Er war schon immer in der Lage
gewesen, sie vollkommen zu durchschauen. Das war einer der Gründe, weshalb sie
sich eingeredet hatte, daß er sie, zumindest unbewußt, lieben mußte. Es hatte
Zeiten gegeben, in denen es schien, als hätte er von ihrer Seele Besitz
ergriffen.
    »Nein, nicht wirklich.« Es war ein ungeschickter
Rückzieher. Wie hatte sie nur vergessen können, daß Kathy verreist war? »Ich
habe angerufen, weil ich mich mit ihr

Weitere Kostenlose Bücher