Es gibt kein nächstes Mal
noch schlimmer als nicht
zu wissen, wo er ist.« Ralph nickte. Er lauschte gebannt. »Und dann schreibt
sie auch noch, sie könnte ihn nicht in der Kleinstadt aufwachsen lassen, die
ihr so sehr verhaßt war, unter demselben Dach wie ihr Vater...«
»Sie muß dieses hübsche kleine Städtchen
tatsächlich enorm gehaßt haben, stimmt’s?« bemerkte Ralph.
Gemma zog die Nase hoch und nickte. »Und das
traurigste ist das, was sie dann schreibt, daß ihr klar sei, daß sie die beiden
Menschen verlieren wird, die ihr am wichtigsten sind, ihr Baby und ihre
Schwester, aber sie würde es tun, damit er ein besseres Leben hat... und dann
endet der Brief sinngemäß: >Das ist die einzige selbstlose Tat, die ich in
meinem ganzen Leben begangen habe, Shirl, und daher versuch bitte, mir zu
verzeihen.<«
Gemma wischte sich mit dem Handrücken über die
Augen.
Ralph hielt ihr eine der kleinen
Papierservietten aus dem Ständer auf dem Tisch hin. Mit einer Geste kann man
Liebe wecken, dachte sie. Er kümmert sich um mich. Er macht sich etwas aus mir.
Er ist ein prima Kerl.
Der Kellner kam mit den Tapas, die sie bestellt
hatten. Ralph wartete, bis er all die kleinen Teller auf den Tisch gestellt
hatte. Dann nahm er eine Olive, die mit Anchovis gefüllt war, in den Mund und
kaute nachdenklich darauf herum. »Ich nehme an, für Shirley war das eine
ungeheuer wichtige Angelegenheit, weil sie selbst keine Kinder bekommen
konnte.«
»Ja, es muß ein harter Schlag für sie gewesen
sein. Und außerdem glaube ich, man kann zwischen den Zeilen lesen, daß Shirley
gegen große Widerstände angekämpft hat, auf die dieser Plan gestoßen ist. Ich
weiß nicht, von welcher Seite, wahrscheinlich von seiten ihres Vaters. Ich habe
keine Ahnung, wie es sich mit Onkel Ken verhält. Aber ich glaube, in allererster
Linie hat sie sich sehnsüchtig ein Baby gewünscht.«
»Sie hat mir etwas weggenommen, was ich
unbedingt haben wollte«, hatte Shirley gesagt.
Gemma stellte sich vor, daß es in der damaligen
Zeit wohl nicht viel Hilfe für unfruchtbare Ehen gegeben hatte. Keine
In-vitro-Fertilisation, keine raffinierten Hormonbehandlungen, keine
Surrogatmutter, keine Hoffnung, nichts anderes als eine Abmachung zwischen zwei
Schwestern, die nicht eingeklagt werden konnte.
Die arme Shirley. Und die arme Estella.
Vielleicht erklärte das, warum sie ihr nächstes Kind so gar nicht mütterlich
behandelt hatte. Vielleicht war sie von einem kleinen Mädchen mit blondem Haar
enttäuscht gewesen, nachdem sie diesen wunderschönen, quicklebendigen
dunkelhaarigen Jungen gehabt hatte, den sie mit soviel Liebe schilderte. »Ich
dachte, Babies hätten keine Haare«, hatte sie geschrieben, »aber er hat Haare,
sogar eine ganze Menge, genau wie ich...«
»Sie hat sich selbst in dem Kind gesehen«, sagte
Ralph. »Was für ein verheerender Schlag, es weggeben zu müssen...«
»Und dann hat sie die einzige Stütze verloren,
die sie bis dahin in Shirley gehabt hat...«, stammelte Gemma. Sie war von
Schuldgefühlen überwältigt.
Estellas letzte Bitte an sie war gewesen, sie
solle sich um Daisy kümmern, doch sie hatte diesen Wunsch ignoriert. Sie hatte
Daisy im Stich gelassen, wie Shirley Estella im Stich gelassen hatte. Es war
nicht dasselbe, versuchte sie sich immer wieder zu versichern. Daisy hatte
alles, was sie wollte. Estella hatte nichts und niemanden gehabt, bis Bertie
aufgetaucht war, um sie zu retten.
Gemma aß einen Bissen Tortilla. Das Essen war
kalt geworden, und ihr war der Appetit vergangen.
»Hast du deine Schwester angerufen?« fragte
Ralph und klinkte sich mit gespenstischer Treffsicherheit in ihre Gedanken ein.
»Noch nicht«, sagte Gemma und sah auf ihre
Armbanduhr. Es war schon spät, aber noch nicht zu spät für Daisy.
»Ruf sie jetzt gleich an. Ich kümmere mich um
die Rechnung«, sagte Ralph.
Gemma eilte dankbar aus dem Restaurant.
»Ich glaube, ich nehme den morgigen Tag frei und
fahre zu Shirley raus«, sagte Gemma später zu Ralph, während sie sich das Haar
mit einem Handtuch trockenrieb.
Daisy war nicht zu Hause gewesen. Das, was sie
ihr sagen wollte, konnte sie nicht auf das Band eines Anrufbeantworters
sprechen. Und schon gar nicht, wenn auf diesem noch die Ansage mit Olivers
Stimme gesprochen wurde.
»Eine gute Idee. Möchtest du, daß ich mitkomme?«
fragte Ralph. Er setzte sich in ihrem Bett auf und sah sie an.
»Nein, danke. Ich meine, es ist lieb von dir,
aber ich fahre trotzdem besser allein. Ich glaube, es wird schon
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