Es gibt kein nächstes Mal
Die Entfernung war nicht
größer als vielleicht sechs Meter, und doch fühlte sie sich so exponiert wie
ein Mannequin auf einem Laufsteg.
Er war nicht da. Sie bestellte ein Tonic mit
Wodka, trank einen Schluck und drehte sich dann auf dem Barhocker um und ließ
ihre Blicke so gelassen wie möglich durch den Raum schweifen. Ein Mann in
mittleren Jahren und mit grauen Locken lächelte sie an, als ihre Blicke über
ihn glitten. Sie erstarrte. Sie war überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen,
es könne sein, daß sie Oliver nicht erkannte. So sehr konnte er sich doch gewiß
nicht verändert haben? Sie ließ ihre Blicke verstohlen noch einmal über den
Mann gleiten und stellte zu ihrer Erleichterung fest, daß er sich wieder seiner Financial Times zugewandt hatte. An einem Tisch saßen zwei Frauen, die
laut miteinander plauderten und über den Teller mit den hausgemachten
Kartoffelchips herfielen, als hätten sie den ganzen Tag noch nichts gegessen.
Ein Mann, der einen Smoking trug und aussah, als hätte er sich erst vor kurzem
schwarze Schuhcreme ins Haar gebürstet, erschien am Klavier und fing an, »New
York, New York« zu spielen.
Sie drehte sich wieder zur Bar um. Der Barkeeper
bot ihr von einer riesigen silbernen Platte ein Canape an. Sie nahm sich einen
Streifen Pumpernickel, der mit Frischkäse bestrichen war, auf dem zwei klare
Perlen Lachskaviar orangefarben schimmerten, und als sie das Häppchen gerade in
den Mund stecken wollte, hörte sie seine Stimme so dicht hinter sich »Gemma?«
sagen, daß sie seinen Atem auf ihrem Ohrläppchen spüren konnte.
Sie drehte sich abrupt auf ihrem hohen Barhocker
um, und ihre Knie stießen fast mit seinen Geschlechtsteilen zusammen.
Er trat zurück, und dieser Gesichtsausdruck, der
so typisch für Oliver war, geradezu seine Quintessenz, eine Mischung aus
unverkennbarem Erstaunen, Wut und Belustigung, huschte einen Moment lang über
seine Züge. Wie oft hatte sie sich bemüht, zu verstehen, was dieser Mann an
sich hatte und was ihm eine solche Macht über sie verlieh — denn sie war
augenblicklich wieder da. War es dieser respektlose Blick, diese
elektrisierende Mischung aus Intelligenz, Humor und Sexappeal?
»Hallo«, sagte sie und kam sich wie die naive
Studentin vor, die er damals kennengelernt hatte.
»Ich muß schon sagen«, sagte er und trat einen
Schritt zurück, »du bist erwachsen geworden, Gemma!«
»Und du siehst noch ganz genauso aus... bis
auf...« Sie unterbrach sich gerade lange genug, um sein unwilliges Stirnrunzeln
zu sehen, ehe sie »bis auf den Anzug« sagte. Die Art, wie er sie ansah, gab ihr
einen Teil ihres Selbstvertrauens zurück. Sie konnte sehen, daß sie ihm gefiel,
und sie hatte das Gefühl, all die Arbeit und das Geld, das sie und Boy in ihre
äußere Erscheinung gesteckt hatten, seien für eben diesen Moment gedacht
gewesen.
»Wir nehmen zwei Manhattans«, wandte sich Oliver
an den Barkeeper. »Das ist doch in Ordnung?« fragte er Gemma.
»Ja, sicher«, sagte sie und leerte ihr Tonic mit
Wodka, denn sie wollte den Verlauf dieses Treffens nicht beeinträchtigen, indem
sie sich jetzt über ein Getränk mit ihm zankte.
Nur dieses eine Getränk, sagte sie sich. Nur ein
einziger Drink mit ihm gemeinsam.
»Wir sollten uns einen Tisch schnappen, ehe es
sich zu füllen beginnt«, sagte Oliver.
»Ist das eine deiner üblichen Tränken?« fragte
sie, als sie ihre Handtasche nahm und ihm folgte. Dabei fragte sie sich, warum
sie eine so seltsame Formulierung gewählt hatte. Es mußte an seinem Anzug
liegen, beschloß sie, an der typischen Anwaltskleidung. Ihr Wissen über
englische Anwälte entstammte ausschließlich den Wiederholungen von Rumpole
of The Bailey, die sie sich in der Reihe »Meisterwerke des Theaters«
mehrfach angesehen hatte, und dort wurden solche Dinge gesagt.
»Ich bin ein- oder zweimal hier gewesen«, sagte
Oliver und setzte sich. »Also dann, prost, Gemma!« Er hob sein Glas und trank
einen Schluck von dem Cocktail. »Ich kann es einfach nicht fassen, daß du eine
solche Schönheit geworden bist...«
Sie spürte, daß sie errötete.
»Ich weiß nicht, wie ich es hingekriegt habe,
ein ganzes Trimester lang in einem Haus mit dir zu wohnen und das nicht zu
bemerken.«
»Ein Jahr. Es war ein Jahr.«
»Wie bitte?«
»Drei Trimester«, sagte Gemma und kam sich dabei
ein wenig pedantisch vor. »Wir haben drei Trimester ein Haus miteinander
geteilt, ein volles Jahr lang.«
»Ach, ja«, erwiderte er mit einem
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