Es gibt kein nächstes Mal
begann, ihr Handgelenk zu streicheln. In dem Moment, in dem sie begriff, um
wen es sich handelte, wollte sie den Blick abwenden, doch der Mann schaute auf
und erkannte sie. Es war Kathys Ehemann Roger, der mit Emily, Olivers
Außendienstmitarbeiterin, dasaß. Daisy wußte nicht, ob sie ihm zuwinken oder
wegschauen sollte. Schließlich bewerkstelligte sie es dann, zu winken und ihn gleichzeitig
mißbilligend anzusehen. Roger leerte sein Glas in einem Zug. Als sie das
nächste Mal hinsah, waren die beiden gegangen.
»Ich frage mich«, sagte sie flüsternd und beugte
sich über den Tisch zu Oliver vor, »ob ich Gemma etwas von Roger und deiner Mitarbeiterin
erzählen sollte, du weißt schon, damit sie Kathy warnen kann?«
»Das wäre nicht gerade das erste, was ich der
fremd gewordenen Schwester nach zehn Jahren Schweigen erzählen würde«,
erwiderte Oliver.
Daisy sah ihn fragend an, und dann fiel ihr wieder
ein, daß er noch gar nichts von dem Treffen wußte.
»Ich habe den heutigen Nachmittag mit ihr
verbracht.«
»Ach, wirklich?«
»Lol, es war so wunderschön ...«
Ihre Augen glänzten vor Liebe. Es war ein Blick,
den er schon seit einiger Zeit nicht mehr an ihr gesehen hatte. Er wußte, daß
es unvernünftig war, aber einen Moment lang war er nahezu geblendet vor
Eifersucht.
So viele Erinnerungen, so viele Bilder. Gemma
lag flach auf dem Rücken und schloß die Augen. In ihrem Schlafzimmer war es kühl,
und die ehemaligen Stallungen waren gegen den Straßenlärm abgeschirmt, bis auf
das gedämpfte, unspezifische Rauschen des Verkehrs. In der Ferne heulte eine
Polizeisirene. Verglichen mit den Wohnungen, in denen sie in New York gelebt
hatte, war es eine Oase der Ruhe.
Sie war noch nicht ganz einen Monat wieder in
England, und doch schienen die zehn Jahre, die sie in New York verbracht hatte,
von Tag zu Tag in weitere Ferne zu rücken, ähnlich dem Geräusch der
Polizeisirene, als der Wagen erst durch den Ladbroke Grove und dann die Harrow
Road hinauffuhr und das Geräusch immer schwächer wurde, bis der Punkt eintrat,
an dem sie nicht wußte, ob das Geräusch schon vollständig verklungen war und
sie es nur noch in ihrer Einbildung hörte.
Die Zeit schien zusammengebrochen zu sein, so
daß die zehn Jahre ebensogut zehn Monate oder sogar nur zehn Wochen hätten sein
können.
Sie glaubte, sich verändert zu haben, und das
war auch der Fall, doch diese Veränderungen waren oberflächlich. Ihre
Vergangenheit, die Jahre und die Menschen, die sie geformt hatten, waren
unverändert. Sie hatte sie zwar aus ihrem Bewußtsein ausgesperrt, doch sie
hatten weiterhin fortbestanden, und sie war ein Teil von ihnen gewesen, so wie
auch sie immer ein Teil von ihr gewesen waren, denn wenn man eine gemeinsame
Vergangenheit mit Menschen hatte, begriff sie, dann hatte man auch eine
gemeinsame Gegenwart und Zukunft mit ihnen.
Ohne einen greifbaren Anhaltspunkt, der ihre
Erinnerungen bekräftigte, ohne direkte Kontakte, ohne Telefongespräche mit Boy,
ohne Meryl, mit der sie nach der Arbeit einen Kaffee trinken konnte, war die
Erinnerung an ihr Leben in den Staaten zu einer Art Postkartenserie
geschrumpft, vielleicht auch Fotografien in einem Album: zweidimensional und
objektiviert. Manche Ereignisse, beispielsweise die Reise nach Las Vegas,
erschienen so unwirklich wie die Stadt selbst mit ihrer virtuellen Sphinx und
ihren zehnminütigen Sonnenuntergängen, und doch hatte sie sich währenddessen
eingebildet, wirklich zu leben.
Sie hatten fünftausend Dollar Bargeld
mitgenommen, und Boy hatte darauf bestanden (schließlich war es sein Geld), daß
sie den kompletten Betrag an den Spieltischen verloren — tausend Dollar pro
Tag. Am ersten Abend, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben Roulette gespielt
hatte, hatte sie zehntausend Dollar gewonnen. Boy war rasend enttäuscht von ihr
gewesen.
»Die einzige verschwenderische Geste in meinem
ganzen Leben, und du verdirbst mir alles!« hatte er geschmollt. Dann hatte er
sich in seinem Rollstuhl zu seinem Bett begeben und Gemmas Angebot, ihm zu
helfen, schroff zurückgewiesen.
Die Türen des Lifts schlossen sich hinter seinem
Rollstuhl, und Gemma hatte allein dagestanden und einen großen marmorierten
Plastikchip in der Hand gehalten. Sie hatte beschlossen, ihn in Bargeld einzutauschen.
Die Hälfte des Geldes hatte sie wieder in ihre Handtasche gesteckt, und für den
Rest hatte sie sich Chips in kleinen Stückelungen geben lassen. Dann hatte sie
sich von dem Kassierer
Weitere Kostenlose Bücher