Es gibt kein nächstes Mal
wenn Lol eine Erkältung hat. Dazu muß ich allerdings sagen, daß
er ein gräßlicher Hypochonder ist. Er hat nie eine Erkältung, es ist immer
gleich ein Bronchialkatarrh, oder er hat den Verdacht, daß seine Lunge den
Geist aufgegeben hat. Er übergibt sich nie, weil er zu fett gegessen hat, nein,
es ist immer eine Darmgrippe oder das Anfangsstadium eines Magengeschwürs, wenn
du weißt, was ich meine.«
Eine flüchtige Erinnerung daran, wie Oliver im
vorderen Zimmer ächzend auf dem Sofa gelegen hatte, weil er verkatert war, und
wie sie hin und her gelaufen war, um ihm Alka Seltzer und kalte Kompressen zu
bringen, rang Gemma ein Lächeln ab. Ja, sie nahm an, daß er zu gewissen
Übertreibungen neigte, aber damals hätte sie nie gewagt, es so zu sehen, und
ausgesprochen hätte sie diese Einschätzung schon gar nicht.
»So war es nun auch wieder nicht«, versuchte sie
zu erklären, nachdem sie das Bild eines verkaterten Olivers verdrängt hatte.
»Es gab so viel, was Boy noch tun wollte. Die Hälfte der Zeit war ich entweder
bemüht, mit ihm Schritt zu halten, oder ich habe versucht, ihn dazu zu bringen,
daß er seine Kräfte schont. Zum Beispiel im letzten Winter, an einem Tag, an
dem es draußen eiskalt war. Boy konnte praktisch so gut wie nichts mehr sehen,
aber er wollte unbedingt den Schlittschuhläufern im Central Park zuschauen. Ich
habe zu ihm gesagt, bei dem Wetter kannst du nicht auf die Straße gehen, und
daraufhin hat er gesagt: >Ach, machst du dir etwa Sorgen, eine Erkältung
könnte mein Tod sein?< Wir haben trotzdem eine ganze Menge unternommen. Einmal
hat er gesagt, er empfände das Wissen, daß er stirbt, als eine Art Befreiung.
Man wüßte dann wenigstens, daß man das, was man schon immer tun wollte, jetzt
gleich tun muß. Wir haben ständig Konzerte, Theateraufführungen und
Ausstellungen besucht. Und außerdem schien Boy zu glauben, daß die Gebote der
Höflichkeit für ihn nicht mehr gelten, das heißt, wenn wir eine Vernissage
besucht haben und er die Bilder schlecht fand, dann hat er das laut und
deutlich gesagt.«
»Hat er einen Freund gehabt?« fragte Daisy.
»Nicht in den letzten Jahren. Er hatte
haufenweise Freunde, aber er hatte keinen festen Partner. Und man braucht
dringend jemanden, der für einen da ist, verstehst du, wenn man mitten in der
Nacht mit Existenzängsten und Schweißausbrüchen aufwacht. Boy hatte sehr viele
Leute, mit denen er lachen konnte, aber wenn er sich ausweinen wollte, dann war
nur ich für ihn da.«
Gemma spürte, wie die Tränen in ihre Augen
traten. »Verstehst du, als wir es herausgefunden haben, war mein erster Impuls,
fortzulaufen. Aber ich habe es nicht getan. Heute bin ich wirklich froh
darüber, daß ich es nicht getan habe. Ja, manchmal erschien mir die
Verantwortung zu groß, aber wir hatten auch viel Spaß miteinander.«
»Spaß?« fragte Daisy.
»Letztes Jahr sind wir nach Las Vegas gefahren«,
sagte Gemma. »Du weißt ja sicher, daß die meisten Leute, wenn sie erfahren, daß
sie sterben werden, plötzlich einen bestimmten Ehrgeiz entwickeln — das Taj
Mahal zu sehen oder Botticellis Venus oder etwas vergleichbar Erhabenes.«
»Ja, also, ich kann es mir vorstellen...«
»Boy wollte das Caesar’s Palace sehen. Er wollte
in dem Forum mit der wunderbaren Klimaanlage sitzen, wo die Sonne alle zehn
Minuten untergeht. Er hat sich ausgerechnet, daß er auf diese Art die
Sonnenuntergänge eines ganzen Jahres in fünf Tage zwängen kann, und er hat
gesagt, dort röche es nicht so schlecht wie im wirklichen Rom!«
»Das klingt alles ganz so, als sei er sehr nett
gewesen«, sagte Daisy leise. Nachdem sie einen Moment lang nachgedacht hatte,
fragte sie: »Als er gestorben ist, hast du da das Gefühl gehabt, ihm alles
gesagt zu haben, was du ihm jemals sagen wolltest?« Ihre Stimme stockte, als
spräche sie über ein Dilemma in ihrem eigenen Leben.
Gemma schwieg ein paar Minuten lang, und dann
sah sie ihre Schwester an und sagte: »Ich glaube, sein Tod hat mich gelehrt,
daß einem niemals diese letzte halbe Stunde mit jemandem gewährt wird, ganz
gleich, wie gut man sich auch vorbereitet hat. Und es ist zwecklos, sich für
den Rest seines Lebens Vorwürfe zu machen, weil man die Dinge nicht gesagt hat,
die man noch sagen wollte.«
Während sie diese Worte aussprach, erkannte sie,
daß sie eigentlich gar nicht mehr über Boy redete, sondern darüber, daß sein
Tod es ihr eventuell ermöglicht hatte, sich mit der schuldbewußten Traurigkeit
zu
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