Es gibt kein nächstes Mal
Idee gut fand und überrascht war, daß Daisy auf einen
solchen Gedanken gekommen war. Ihrer Schwester war nicht klargewesen, daß sie
erwachsen geworden war. Daisy war stolz. Als sie am späten Nachmittag nach
Hause kam, war Oliver aus dem Haus gegangen.
Wenn er in einer solchen Stimmung war, dann
fragte sich Daisy, weshalb ihn auch nur irgend jemand lieben sollte, ganz zu
schweigen davon, daß ihn die beiden Rush-Schwestern liebten, doch als sie an
den Schildern der Ausfahrt nach Oxford vorbeigefahren waren, fiel ihr wieder
ein, wie er damals gewesen war und wie Gemma ihn gesehen haben mußte.
Mit seiner mysteriösen Herkunft, seinem
grüblerischen Gesicht, dem dunklen Haar und seiner Schönheit war Oliver wie ein
klassischer romantischer Held aus einem Buch. Sogar die Art, wie er über sich
selbst sprach, entstammte den Seiten eines viktorianischen Romans.
»Ich bin fortgelaufen, um zur See zu fahren.«
Wie viele Leute hätten einen solchen Satz
gesagt? Und vor allem war diese Behauptung reichlich phantasievoll, sagte sich
Daisy, wenn es in Wahrheit so aussah, daß der Vater eines seiner Freunde für
die Besatzung seiner Luxusyacht noch einen starken Knaben gebraucht und Oliver
gefragt hatte, ob er vielleicht Lust hätte, eine Kreuzfahrt zu den Bermudas
mitzumachen.
Die Sprache, die Oliver benutzt hatte, um die
Reise zu schildern, beschwor Bilder von ihm herauf, wie er, mit dem schmutzigen
Gesicht eines Gassenjungen, an der Takelage hinaufgeklettert war. In
Wirklichkeit war der Atlantik, wie es ihm einmal herausgerutscht war, so ruhig
wie ein Mühlteich gewesen, und er hatte sich eine gesunde Bräune geholt,
während er auf dem Deck lag und Ulysses las. Der einzige kleine
Schönheitsfehler an dieser Luxuskreuzfahrt war der gewesen, daß er eines Tages
mit einem Messingtablett auf der Brust, auf dem er ein Glas Rum balancierte, in
der Sonne eingeschlafen war. Er war mit einem brennenden Striemen direkt unter
dem Brustbein erwacht, und die Brandblasen hatten eine Narbe hinterlassen.
Man mußte Oliver lange kennen, um zu begreifen,
daß die Geschichten, die er über sich erzählte, in hohem Maß romantisch
ausgeschmückt waren. Als Daisy ihn zum ersten Mal auf eine Ungereimtheit
hingewiesen hatte, hatte Oliver sie finster angesehen und gesagt: »Du benutzt
dein Gedächtnis wie eine Waffe.«
»Nein, keineswegs!« hatte Daisy protestiert. »Es
ist nur einfach so, daß ich mir Dinge besser merken kann als du! Wenn man lügt,
dann muß man konsequent bei seinen Lügen bleiben.«
Sie liebte ihn kein bißchen weniger, als sie
schließlich die Wahrheit über sein Leben erfuhr und seine Geschichten mit ihrer
Melodramatik sie zu ärgern begannen.
Er war der Sohn eines ßezirksrichters aus
Liverpool. Sein Vater und seine Mutter verkörperten vorbildlich das Verhalten
der provinziellen Mittelschicht. Sie hatten Oliver das Leben so leicht wie
möglich gemacht und ihm jede erdenkliche Chance gegeben. Als er mit achtzehn
Jahren alles erreicht hatte, was sich sein Vater je von ihm gewünscht hatte —
ein Jurastipendium in Oxford — , hatten sie ihm mitgeteilt, daß er ihr
Adoptivsohn war. Oliver durchlebte mit Verspätung eine pubertäre
Identitätskrise, fuhr über den Atlantik und verbrachte die nächsten Jahre
damit, sich in der Karibik herumzutreiben. Er schlug sich damit durch, daß er
den Kindern reicher Amerikaner Tennisunterricht erteilte.
Angesichts der Armut der Dritten Welt auf
einigen der Inseln hätte seine wahre Erziehung im Umgang mit den Reichen
bestanden, behauptete Oliver. Als sich gerade die Toxteth-Aufstände zusammenbrauten,
kehrte er nach Liverpool zurück. Er gab seinem Vater, seiner
Gesellschaftsschicht und der Regierung, die diese Schicht gewählt hatte, die
Schuld daran, und er beschloß, das zu werden, was sie mehr als alles andere
haßten und fürchteten: ein kluger linksradikaler Anwalt.
Ohne den Zuckerguß sexueller und politischer
Abenteuer, mit dem Oliver seine Geschichte versehen hatte, war sie immer noch
bewundernswert genug.
Manchmal fragte sich Daisy, ob Oliver ein
glücklicherer Mensch gewesen wäre, wenn er herausgefunden hätte, woher er
wirklich kam. Die Möglichkeit, Geschichten über seine Vergangenheit zu
erfinden, machte ihn zwar in den Augen anderer Menschen äußerst interessant und
enigmatisch, doch sie hatte ihm zugleich den besten aller Vorwände dafür geliefert,
daß er sich gehenließ.
»Du hast keine Ahnung, was für ein Gefühl es
ist, im Stich gelassen zu
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