Es ist nicht alles Gold was glänzt
Blatt war das wohl nur eine unbedeutende und eher langweilige Geschichte. Wieder einmal ein undurchsichtiges Geschäftsunternehmen, das über Nacht zusammengebrochen war, keine Entführung oder Brandstiftung oder gar Vergewaltigung: nicht gerade ein Thema, das Schlagzeilen verdient und die Aufmerksamkeit der Leser gefesselt hätte. Eine Geschichte, an die er selbst keinen weiteren Gedanken verschwendet haben würde, wäre er nicht persönlich darin verwickelt – und eben das machte sie zu einer privaten Tragödie.
Am Bahnhof Paddington angekommen, wühlte er sich durch die ameisengleich in der Halle hin und her laufende Menschenmenge. Stephen war froh, das abgeschirmte Leben von Oxford gewählt zu haben – oder richtiger, von ihm erwählt worden zu sein. Er hatte sich nie mit London befreunden können: Die Stadt erschien ihm zu groß und zu unpersönlich, und er nahm stets ein Taxi, aus Angst, in einen verkehrten Bus oder eine falsche U-Bahn einzusteigen. Warum konnten die Engländer ihre Straßen nicht auch numerieren, so daß die Amerikaner wenigstens wüßten, wo sie sich befänden?
»Zur ›Times‹ bitte, Printing House Square.«
Der Taxifahrer nickte und lenkte seinen schwarzen Austin geschickt die Bayswater Road hinunter und den regennassen Hyde Park entlang. Die Krokusse am Marble Arch wirkten gekränkt und verdrossen, wie sie klitschnaß auf dem dichten Gras plattgedrückt lagen. Die Londoner Taxis machten immer wieder großen Eindruck auf Stephen: niemals hatten sie einen Kratzer oder eine Delle (die Taxifahrer dürfen keine Fahrgäste aufnehmen, wenn Ihre Fahrzeuge nicht in einwandfreiem Zustand sind). So ganz anders als die ramponierten gelben Monster in New York, dachte er. Der Austin sauste die Park Lane hinunter zur Hyde Park Corner, am House of Commons vorbei und das Embankment entlang. Im Parliament Square waren die Flaggen gehißt. Stirnrunzelnd überlegte Stephen. Wovon hatte doch der Leitartikel gehandelt, den er im Zug so zerstreut gelesen hatte? Ach ja, ein Treffen von Commonwealth-Premiers. Er konnte die Welt schließlich nicht daran hindern, ihren täglichen Geschäften nachzugehen.
Stephen wußte nicht recht, wie er es anfangen sollte, etwas über die Persönlichkeit von Harvey Metcalfe herauszubringen. Zu Hause in Harvard würde das keinerlei Schwierigkeiten bereitet haben: Er wäre geradewegs zum ›Herald American‹ gegangen, und der Wirtschaftskorrespondent Hank Swaltz, ein alter Freund seines Vaters, hätte ihm jede gewünschte Auskunft gegeben. Der Tagebuch-Berichterstatter der ›Times‹, Richard Compton-Miller, war bei weitem keine solch geeignete Kontaktperson, aber er war der einzige britische Pressemann, den Stephen kannte. Compton-Miller hatte Magdalen College im vergangenen Frühjahr besucht, um einen Artikel über den altehrwürdigen Brauch der Maifeier in Oxford zu schreiben. Wenn die Sonne am 1. Mai gerade über dem Horizont aufgeht, singt der Chor auf dem College-Turm den Gruß Miltons:
»Heil, güt'ger Mai, der du der Brust
Frohsinn, Jugend schenkst und Lust.«
Compton-Miller und Stephen konnten von der Magdalen Bridge aus einige Paare unten an den Ufern des Flusses beobachten, die sich ganz offensichtlich bereits in diesem Sinne hatten beschenken lassen.
Stephen war später über die Art seiner Erwähnung in dem Artikel, den Compton-Miller über die Feier des 1. Mai im Magdalen College für das ›Times‹-Tagebuch geschrieben hatte, eher verlegen als geschmeichelt gewesen: Akademiker gehen mit dem Wort ›brillant‹ nur sparsam um, Journalisten aber beileibe nicht. Seine eher von sich selbst überzeugten Kollegen waren wenig entzückt gewesen, ihn als den hellsten Stern an einem Firmament mittelmäßiger Leuchten beschrieben zu sehen.
Das Taxi fuhr in den Außenhof ein und hielt neben einem massiven Produkt moderner Bildhauerei von Henry Moore. Die ›Times‹ und der ›Observer‹ waren im gleichen Gebäude untergebracht, hatten aber getrennte Eingänge: der der ›Times‹ war wesentlich eindrucksvoller. Stephen fragte den Pförtner hinter seinem Schreibtisch nach Richard Compton-Miller und wurde hinauf in den fünften Stock zu dessen kleinem Privatbüro am Ende des Korridors geführt.
Es war erst kurz nach zehn Uhr, und das Gebäude war praktisch noch leer. Eine große überregionale Tageszeitung erwacht nicht vor 11 Uhr morgens zum Leben und leistet sich im allgemeinen eine lange Mittagspause bis ungefähr 15 Uhr. Erst dann beginnt die eigentliche
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