Es ist nicht alles Gold...
ich einen Schritt von ihm weg, näher zu Charlie hin.
Was ich in seinen Augen gesehen hatte, erschreckte mich — eisige Kälte, keine
Spur von Gefühl.
Die beiden Männer sahen mich plötzlich
an, und aus unerklärlichen Gründen verspürte ich Nervosität. Auch Charlie
erschien mir plötzlich bedrohlich. In meiner Verwirrung murmelte ich etwas
davon, daß ich jetzt mit der Inventur anfangen müsse, und floh über die Straße
in Joans Laden. Die gestaute Luft im Laden roch muffig. Blasses Sonnenlicht
fiel zwischen den Stäben der kleinen Fenster in den Raum. Abgesehen von der
Kreidezeichnung auf dem Boden war alles so, wie ich es in Erinnerung hatte. Nur
Joan fehlte, Joan und ihre herzliche Art.
Ich zog meine Jacke aus und hängte sie
über einen Stuhl bei der Kasse. Dann setzte ich mich auf das mit mauvefarbenem
Plüsch bezogene Sofa neben Clotilde. Mit aller Anstrengung schlug ich mir die
Erinnerung an van Ostens schreckliche Augen aus dem Kopf und sagte zu der
kopflosen Schneiderbüste: »So, und wo zum Teufel soll ich jetzt anfangen?«
Meine Fachkenntnisse waren gleich Null. Teilten Antiquitätenhändler Möbel nicht
in Stilperioden ein? Chippendale, Hepplewhite, Louis Quatorze und so weiter?
Wie sollte ich es schaffen, den einzelnen Gegenständen im Laden das richtige
Etikett zu geben und gleichzeitig nach dem Mörder Ausschau halten?
Ich lächelte schwach, als ich mir meine
fertige Bestandsliste vorstellte: »Ein alter Tisch, drei noch ältere Stühle,
ein komisches Ding, von dem ich nicht weiß, wie man’s nennt, drei
stehpultähnliche Stücke, ein Gegenstand, den man mit etwas gutem Willen für
einen Schirmständer halten könnte.« Ich brauchte dringend einen Intensivkurs in
diesem Fach. Ich beschloß, später bei der Bibliothek vorbeizufahren und mir ein
paar Bücher über Antiquitäten zu besorgen.
Joan war Expertin gewesen. Sie hatte
zwanzig Jahre oder länger mit Antiquitäten gehandelt und konnte einem praktisch
auf den ersten Blick den Wert und die Herkunft eines Stückes sagen. Wenn ein
Kunde den Laden betrat, verstand sie es, ihn in eine Fantasiewelt
hineinzulocken, in der jeder Gegenstand im Laden durch seine eigene, besondere
Vergangenheit lebendig wurde. Ich wurde noch einmal sehr traurig, als ich mich
meines ersten Besuchs bei Joan in den ersten Oktobertagen des letzten Jahres
erinnerte.
Eine zierliche grauhaarige Frau in
langer Hose und schlabberigem blauen Pullover, einen Staubwedel in der Hand,
hatte mich begrüßt.
»Willkommen in meinem Reich
einzigartiger Antiquitäten«, sagte sie lachend. »Ich bin Joan Albritton, und
das hier ist Clotilde.«
Sie wies auf die kopflose Puppe neben
dem Sofa. Die Büste trug ein langes, über und über mit Pailletten besticktes
Abendkleid, dessen Farbe sich entsetzlich mit dem Mauveton des Sofas schlug.
»Clotilde«, fuhr Joan fort und
zwinkerte mir dabei zu, »war einst ein ungeheuer erfolgreiches haute couture -Mannequin
in Paris, und sie wäre es noch, hätte ihr nicht ihr törichtes Herz einen bösen
Streich gespielt. Sie verliebte sich nämlich in einen Mann aus San Francisco
und folgte ihm hierher, wo sie leider feststellen mußte, daß er verheiratet war
und dreizehn Kinder hatte. So kam es, daß sie in der Salem Street landete, in
meinem Laden, wo sie mir hilft und um ihre verlorene Liebe trauert. Sie sehen
ja, sie hat wegen dieses Menschen völlig den Kopf verloren.«
Ich lachte und verneigte mich vor
Clotilde.
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«
Joan warf mir einen vergnügten Blick
zu.
»Aber vielleicht bedeuten Ihnen Kinder
mehr als schöne Frauen. Kommen Sie.« Sie führte mich durch einen engen Gang,
wobei sie ab und zu stehenblieb, um mit ihrem Staubwedel über diesen oder jenen
Gegenstand zu fahren. »Das ist Edwin Eisenschuh, so geheißen nach seinem
äußerst unbequemen Schuhwerk.«
Die blaßblauen Augen der verschlossen
wirkenden Kleiderpuppe starrten auf die Wand. Das Gesicht glänzte schwach, der
Maler, der das geschnitzte Holz bemalt hatte, gab ihm apfelrote Wangen,
Ausdruck blühender Gesundheit.
»Hallo, Edwin«, sagte ich.
Joan lächelte mich an. »Meiner Meinung
nach hätte Edwin bestimmt lieber Tennisschuhe gehabt, was denken Sie? So ist er
nun zu einem Leben stiller Kunstbetrachtung gezwungen, anstatt wie andere
kleine Jungen herumzutollen. Edwin ist nicht zu verkaufen; das Bild hingegen
schon. Ich muß die Bilder häufig wechseln, damit er sich nicht langweilt.«
Mit dem goldblonden Haar, das sein
Gesicht wie
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