Es klopft
und da die Kinder so friedlich spielten, zog Julia ein Taschenbuch mit Novellen von Giovanni Verga hervor, das sie bei sich hatte, und Manuel streckte sich einen Moment im Gras unter dem Schatten einer Lärche aus und schlief sofort ein.
Er erwachte vom ersten Donner. Sonne und Himmelsbläue waren verschwunden, hinten im Tal drängten sich dicke schwarze Wolkenballen, und schon fuhr ein Blitz bis auf den Talboden hinunter. Sekunden später rollte der Donner heran, und nun begannen Manuel und Julia ihre Sachen einzupacken, Thomas wurde in den Kinderwagen gesteckt, Mirjam in das Traggestell, die Decke zusammengerollt und im Rucksack verstaut, aus dem Manuel die Windjacken und Kinderregenhüte herausgenommen und verteilt hatte, und dann eilten sie mit langen Schritten der nächsten Brücke über den Bach zu, Thomas wurde in seinem Buggy hin und her gerüttelt, wenn Manuel einer Wurzel ausweichen musste oder
sonstwie die Unebenheiten des Fußweges zu meiden versuchte, Mirjam hüpfte auf Julias Rücken auf und ab, beide Kinder begannen zu heulen, der Wind wirbelte in die Baumkronen der Lärchen, die Blitze und der immer dichter darauf folgende Donner trieben sie und andere Spaziergänger talwärts, schoben sie fast vor sich her, und gerade als sie einen Stall erreichten, brach der Gewitterregen über sie herein, sie konnten sich nur unter das kleine Vordach stellen, aber da der Regen fast horizontal auf sie zugepeitscht wurde, war dieser Standort eigentlich sinnlos. Trotzdem blieben sie hier stehen, weil sich das Gewitter nun zuckend und krachend direkt über ihnen entlud. Julia nahm die durchnässte Mirjam aus der Trage und drückte sie an sich, Manuel hob Thomas aus dem Buggy und hielt ihn auf seinen Armen, und während sich die Kinder etwas beruhigten, fragte er Julia, ob sie denn das Gewitter nicht habe kommen sehen.
»Es tut mir leid«, entgegnete sie, »die Geschichte war so spannend.«
»Wovon handelt sie denn?«
»Von einer Liebe, von der der andere nichts weiß.«
Manuel erschrak und beschloss im gleichen Moment endgültig, Julia nichts von dem zu sagen, was passiert war. Warum auch? Es ging ja.
9
I m Mai 1984 traf der Brief ein.
Frau Lejeune hatte ihn mit einem gelben Klebezettel versehen, auf den sie »privat!« geschrieben hatte, und ihn zuoberst auf die eingegangene Post gelegt, die sie jeweils vorsortierte in Untersuchungsberichte, Patientenüberweisungen, Rechnungen, und das stetig wachsende Häuflein von Werbung für Pharmazeutika und medizinische Artikel. Da lag er, auf dem Laborbefund einer Biopsie, war in einer schönen, etwas ausgreifenden Handschrift adressiert an Dr. M. Ritter priv., und als ihn Manuel zwischen zwei Konsultationen auf dem Tisch des Praxisbüros liegen sah, steckte er ihn in die Tasche seines Kittels. Er hatte die Schrift noch nie gesehen, wusste aber sofort, zu wem sie gehörte. Die Anfangsbuchstaben seines Namens waren mit langen, ganz leicht eingerollten Aufstrichen geschrieben, die wie die Fühler eines Insekts in die Zeile mit dem Straßennamen hingen.
Er wartete, bis er seinen letzten Patienten am Mittag verabschiedet hatte, dann setzte er sich auf die Kante seines Pultes, nahm den Brieföffner mit der Aufschrift »Ciba-Geigy« zur Hand und machte den Brief auf.
Als erstes kam ihm ein Foto entgegen. Eine lachende Frau mit einem roten Stirnband hielt vor sich auf den Knien einen Säugling, der mit großen Augen staunend in die Kamera blickte und auf dessen Kopf sich ein kecker kleiner Haarschopf aufrichtete.
Auf einer Briefkarte stand:
Danke!
Und liebe Grüße
von
Mutter und Tochter
Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste ihn, er ging um das Pult herum und ließ sich auf seinem Stuhl nieder. Eine Tochter also. Seine Tochter. Konnte das sein? Er hatte schon eine und brauchte keine zweite. Aber offenbar war es so, da gab es wohl keinen Zweifel. Kein Name, auch vom Kind nicht, nur »Mutter und Tochter«. Er drehte den Umschlag um. Natürlich auch kein Absender. Vorne der Poststempel »4000 Basel 2 - Briefversand« und ein Fahnenstempel mit der Aufschrift »Ein Postcheckkonto erleichtert Ihren Zahlungsverkehr«. Zwei Briefmarken, eine rote 40er »Pro Juventute« mit einem Schaukelpferd drauf, und eine 10er aus dem Briefmarkenautomaten. Das ergab zusammen die erforderlichen 50 Rappen, welche die Post seit Anfang des Jahres für einen Brief verlangte, anstelle der 40 wie bisher.
Basel 2, Briefversand, das musste die Hauptpost sein, aber eigentlich hieß das nicht einmal,
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