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Es klopft

Es klopft

Titel: Es klopft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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schlagen, diese Frau!
    Und doch, es bedrückte ihn auch, dass er etwas zu verheimlichen hatte, nämlich einen vollständig unerklärlichen Fehler, den er begangen hatte, etwas, das in seinem Lebensplan nicht vorgesehen war. Ein Ausdruck aus seiner Kindheit kam ihm in den Sinn, »e Tolgge im Reinheft«. Der Tintenfleck im weißen, endgültigen Heft, etwas, das man nicht mehr wegbrachte. Seine Mutter hatte ihm das manchmal gesagt, wenn er etwas besonders Verwerfliches getan hatte. Einmal hatte er seinem jüngeren Bruder Max im Streit um irgendeine Nichtigkeit dessen Cellobogen mit solcher Wucht über den Kopf gehauen, dass er zerbrach. Das war zu einem der »Tolggen« in Manuels Reinheft geworden. Ein Cellobogen allerdings war leicht zu ersetzen, solche Tintenflecken verblassten bald wieder.
    Dieser hier würde ein Leben lang bleiben. Er schaute das Kind auf dem Foto nochmals an. Seine dunklen Augen blickten
in die Kamera mit der einzigen Mitteilung: ich bin jetzt da.
    Ein anderer Ausdruck meldete sich, aus seiner Zeit als Assistenzarzt in Lausanne, es war der Ausdruck, mit dem man auf Französisch ein uneheliches Kind bezeichnet: »un enfant naturel«, und dieser Begriff sprach ihm Trost zu. Das war ein natürliches Kind, nicht in erster Linie ein Kind von ihm, sondern ein Kind der Natur, das seinen Weg in die Welt selbst gesucht hatte.
    Wer wohl das Foto aufgenommen hatte? Eine Frau oder ein Mann? Ein Mann aus Evas Freundeskreis, der so ganz und gar versagt hatte? Würde das Kind noch zu einem Vater kommen?
    Schwer verständlich, dass eine solche Frau keinen passenden Mann finden sollte, und nun, mit einem kleinen Kind, war es bestimmt nicht leichter. Julia behauptete immer, gute Frauen hätten es schwerer, einen Mann zu finden als umgekehrt, vermochte dies aber nicht zu begründen. Dieser Fall wäre eine Bestätigung für ihre These, schade, dass er ihr davon nicht erzählen konnte.
    Wie würde er ihr überhaupt begegnen heute Abend?
    Mit Erleichterung kam ihm in den Sinn, dass sie zu einem Elternabend an der Kantonsschule musste und dass er es übernommen hatte, die Kinder zu hüten. Bis sie nach Hause käme, hätte er allen Grund, müde zu sein.
    Für heute war er also gerettet.
    Aber vor ihm lag noch ein Leben, immer konnte er da nicht müde sein.

10
    N un konnte Julia auch nicht mehr schlafen.
    Das Bild von Manuel, der mit ihren Briefen an seinem Schreibtisch saß, hatte sie überrascht. War das möglich, dass ihn die neue Liebe seines Sohnes nicht schlafen ließ? Dass sie ihn an seine eigene Liebe erinnerte? So sehr, dass er ihre Spuren suchte? Oder hatte ihn einfach die Vergänglichkeit eingeholt? Die plötzliche Erkenntnis, dass er alt wurde? Was immer es genau war, es waren Gefühle, die ihn umtrieben. Gefühle. Wann hatten sie zum letztenmal über Gefühle gesprochen?
    Die Literatur war voll davon, die Gedichte, die Erzählungen, die sie mit ihren Schulklassen las, handelten von nichts anderem als von Gefühlen, von Liebe, von Schmerz, von Trauer, von Verzweiflung, von Eifersucht, von Leidenschaft, von Sehnsucht, von der Einsamkeit des Menschen, von der Frage nach dem Sinn von Leben und Tod.
    Qué es la vida? Una ilusión,
    Una sombra, una ficción.
    Diesen Vers von Calderón hatte sie in der letzten Spanischstunde gebracht, und ihren Schülern hatte er eingeleuchtet wie eine Zeile aus einem Rocksong. Ein Schatten ist das Leben, eine Illusion, eine Täuschung.
    Und wie berührend hatten sie nachher über ihre Gefühle gesprochen, ganz unvermutet. Eine Schülerin, die ihren Bruder durch einen Unfall verloren hatte, sagte sogar, sie hoffe
immer noch darauf, dass das Leben nur eine Illusion sei, ein böser Traum, aus dem sie irgendeinmal wieder erwache, und dann wäre alles gut.
    Y el mayor bién es pequeño,
    qué toda la vida es sueño,
    y los sueños, sueños son.
    Ein Traum sei das ganze Leben, und Träume seien eben Träume, so endet das Gedicht.
    Und Manuel und sie? Sie hatten es schön zusammen, zweifellos. Aber solche Gespräche führten sie nie. Warum eigentlich nicht? Vielleicht sollte sie Manuel mehr Gedichte vorlesen. Das von Calderón, und ihn dann fragen, ob er auch manchmal das Gefühl habe, das Leben sei nur ein Traum. Sie war 55, er 59 - wieviel Vorräte an Zukunft hatten sie überhaupt noch?
    Sie dachte an die Zeit, als sie ihm die Briefe geschrieben hatte, die er vorhin in der Hand hielt. Sie hatte ein Semester in Salamanca verbracht, etwa ein Jahr, nachdem sie sich kennen gelernt hatten,

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