Es klopft
Nähe. Sie hatten sich nicht einmal geduzt während der Umarmung, so fremd waren sie sich geblieben. Nein, nicht erfüllen, die Sehnsucht, sagte sich Manuel, aber behandeln, und er wusste, dass es nur eine Behandlung gab: er musste sie abtöten, wie einen Bakterienherd. Gäbe es ein Antibiotikum gegen Gefühle, er würde es schlucken. Zweimal täglich.
Und Julia? Musste er ihr alles offenlegen?
Für einen solchen Fall war Manuel nicht ausgebildet.
In seiner Familie war alles unternommen worden, um offene
Gespräche zu vermeiden. Als sich eine Schwester seines Vaters scheiden ließ, wurde das vor ihm und seinem Bruder so lange wie möglich geheim gehalten. Onkel Bernhard sei beruflich im Ausland, hieß die offizielle Sprachregelung. Erst als Manuel einmal hörte, als Zehn- oder Elfjähriger, wie seine Mutter am Telefon mit Tante Erna über die Scheidung sprach, sagte sie ihnen die Wahrheit, stockend und ungern, das Geständnis einer Schande. Aber auch das hatte keinen Klimawandel in der Gesprächskultur herbeigeführt.
Ob seine Eltern während ihrer Ehe je Liebesgeschichten gehabt hatten? Beide lebten noch, waren über siebzig, aber es war für ihn undenkbar, sie nach so etwas zu fragen.
Manuel suchte nach irgendetwas Positivem.
Wenigstens ging es der Schädelbruchpatientin wieder gut; das Verfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung war eingestellt worden, und die Unfallkosten hatte die Versicherung des Mädchens zu tragen.
Diese Geschichte war also abgeschlossen, aber was war das schon gegen die andere, viel schwerer wiegende, die erst angefangen hatte.
Manuel atmete tief ein.
In seinen Ohren begannen die Bergdohlen wieder zu krächzen.
Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte, er wusste nur, dass etwas Unwiderrufliches geschehen war.
8
W ie rasch der Sommer gekommen war.
Manuel und Julia hatten für drei Wochen die Ferienwohnung in Pontresina gemietet, die einem Bündner Kollegen Manuels gehörte.
Sie lag am Hang hinter der Kirche, das Parterre war durch die Familie des Kollegen belegt, wenn sie da war, und der erste Stock wurde vermietet. Sie fühlten sich wohl in den sonnigen, großzügigen Räumen und gingen sommers und winters hin.
Vor ein paar Tagen waren sie angekommen, Manuel musste nach zwei Wochen wieder zurück, er wollte die Praxis nicht zu lange schließen, Julia blieb mit den Kindern eine Woche länger.
Heute Morgen war er um halb vier Uhr aufgestanden, hatte sich einen Tee gemacht, war dann den Zickzackweg neben dem Sessellift hinaufgegangen und hatte den Piz Languard bestiegen, während gegenüber die Reihe der Berggipfel vom Licht der Morgensonne immer heller wurde und die scharfe Kante des Biancogrates wie eine Adlernase vom Gesicht des Piz Berninas abstach. Aus der Berghütte unterhalb des Gipfels war schon Rauch aufgestiegen, er war eingetreten und hatte einen Kaffee getrunken, und zwei Stunden später war er wieder in der Ferienwohnung, wo Thomas immer noch im Schlafanzug auf dem Boden herumrutschte und aus seinen Legos eine Burg baute, während Mirjam neben Julia im
Kinderstühlchen am Tisch saß, die Nuckelflasche in beiden Händen, und »Mam!« rief, als er eintrat. Das war das einzige Wort, das sie kannte, es stand für alles Wichtige im Leben, Mutter, Vater, Essen, Trinken, Hallo und Ade. Julia, die Linguistin, nannte es eine Einwortsprache und wartete mit Spannung auf deren Zellteilung. Sie war überzeugt, dass Mirjams zweites Wort ihrem Bruder gelten würde.
Das waren Tagesanfänge nach Manuels Geschmack: ganz allein einen Dreitausender vor dem Frühstück, und dann zurück zur Familie. Er war kein Alpinist, aber er fühlte sich gut in den Bergen. Beim Wandern hoch oben war ihm manchmal, als habe er sich selbst im Tal zurückgelassen, und es gehe ein anderer an seiner Stelle.
Zu Beginn seines Studiums war er ein paarmal auf Hochtouren mitgegangen, mit einem Freund, der dafür sorgte, dass er sich mit den richtigen Knoten anseilte und die Steigeisen korrekt anschnallte, doch als dieser im Winter auf einer Skitour in einer Lawine ums Leben kam, verging ihm die Lust aufs Hochgebirge, und seit Thomas zur Welt gekommen war, war er etwas ängstlicher geworden. Heute allerdings hatte er sich angesichts der gleißenden Bergkette gegenüber gefragt, ob er sich nicht beim hiesigen Bergführerverein für eine Besteigung des Piz Palü anmelden könnte, die zweimal in der Woche angeboten wurde. Wenn er die Verantwortung an einen Führer abgeben konnte, schien ihm das Risiko
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