Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es klopft

Es klopft

Titel: Es klopft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
Vom Netzwerk:
gingen über die Brücke, unter der tief unten der Berninabach durchgurgelte (»Siehst du den Bach, Thomi?« - »Du hältst ihn gut fest, gell Manuel?«), stiegen dann durch den Lärchenwald zu einer Lichtung hoch, in der im Sommer jeden Vormittag ein kleines Kurorchester auftrat, dessen Musiker tapfer versuchten, die Mischung aus Populärem und Gefälligem über der Grenze ihres Selbstwertgefühls zu halten. Walzerklänge begleiteten sie, als sie behutsam am Pavillon und den Zuhörern vorbeigingen, die auf Bänken verstreut waren und, den Programmzettel in der Hand, lauschend in die Baumwipfel oder auf den weichen Waldboden blickten.

    Thomas blieb lange stehen und blickte zu den Musikern.
    »Musig!« sagte er laut, so dass einige aus dem Publikum ihre Köpfe zu ihm drehten.
    »Pscht!«, sagte Manuel und versuchte ihn weiterzuziehen.
    Thomas protestierte. »Toma Musig!« rief er.
    Weitere Köpfe drehten sich.
    »Ja«, flüsterte Manuel, »schöne Musik, ganz still zuhören.« Fragend blickte er zu Julia und wies auf eine freie Bank.
    Julia nickte, und sie setzten sich, Julia auf die Kante der Bank, damit sie Mirjam in der Rückentrage lassen konnte.
    Manuel nahm Thomas zu sich auf die Knie.
    Die Walzerklänge schwollen an, die Donauwellen von Johann Strauß wahrscheinlich, und Manuel und Julia waren erleichtert, als keine weitere Störung aus ihrer Mitte auftrat und Thomas beim einsetzenden, eher dünnen Applaus kräftig mitklatschte.
    Als Julia bekannt gab, sie wolle jetzt weitergehen, gab Thomas bekannt, er wolle hier bleiben. Manuel und Julia einigten sich, noch während des nächsten Stücks zu bleiben, es war der Sommer aus Vivaldis »Vier Jahreszeiten«.
    »Mam!« rief Mirjam während des Violinsolos im langsamen Satz.
    »Sie will weiter«, sagte Julia leise zu Manuel, »ich geh schon voraus.«
    Als sie so unauffällig wie möglich aufstand, verlangte Thomas »Mama wart!«
    »Pscht«, sagte Manuel, »Mam!« rief Mirjam erneut und dringender, und Julia bedeutete dem Kleinen, sie würde weiter vorne auf ihn warten. Das konnte dieser nicht verstehen.
»Mama da wart! Musig!« sagte er laut und klammerte sich an Julias Hosenbein. Die schmächtige Geigerin brachte ihre Kantilene mit einem Seitenblick auf den Unruheherd zu Ende, und das Orchester eröffnete das Sommergewitter des letzten Satzes.
    Seufzend erhob sich Manuel, nahm Thomas an der Hand, und während dieser mit kräftiger Stimme und zum Missfallen des mehrheitlich älteren Publikums ringsum auf dem weiteren Genuss der Musig beharrte, entfernte sich das Grüppchen in einer »Mam!Musig!Pscht!«-Wolke langsam aus der Klassik im Lärchenwald.
    »Vielleicht sollten wir Thomas einmal ein paar klassische Kassetten kaufen«, sagte Manuel, als sie später weiter hinten im Tal auf einer Bank am Wegrand die Brötchen aßen, die Julia vorbereitet hatte. Mirjam saß auf einer Decke im Gras und spielte mit Arvenzapfen, die ihr Thomas brachte.
    Julia sagte, auch sie sei beeindruckt gewesen vom Interesse des Kleinen vorhin, sie könne sich aber genauso gut vorstellen, dass es das Ereignis an sich gewesen sei, das ihn fasziniert habe, und ja, versuchen könne man das schon.
    Musikalisch gehörte sie zu den klassikgeschädigten Menschen, da sie als Kind zum Geigenspiel gezwungen worden war, bei einem Lehrer, den sie hasste, weil er sie so oft wie möglich berührte, wenn er ihr die richtigen Handstellungen bei der Bogenführung und beim Aufsetzen der Finger auf dem Griffbrett erläuterte. Die Art, wie er jeweils direkt hinter ihr stand und ihre rechte Hand mit dem Bogen mitführte, erfüllte sie noch in der Erinnerung mit Ekel, und der aufdringliche Duft von »Pitralon«, einem damals gängigen Rasierwasser, das auch das seine war, war ihr so zuwider, dass
sie später Giuliano, der es ebenfalls benutzte, eine teure Flasche eines andern Aftershaves schenkte, weil sie ihn sonst buchstäblich nicht riechen konnte.
    Aber eigentlich war sie musikalisch, sie sang gerne, hörte auch gerne Gesang, und wenn sie sich eine Platte kaufte, dann am ehesten von den italienischen Cantautori wie Branduardi und Lucio Dalla oder Sängern wie dem Argentinier Atahualpa Yupanqui. Auch Georges Brassens hatte es ihr angetan; als er unlängst mit 60 Jahren an Krebs gestorben war, hatte sie das Lied »J’aurais jamais dû m’éloigner de mon arbre« aufgelegt und plötzlich geweint, als hätte sie einen engen Freund verloren.
    Die Arvenzapfensammlung, mit welcher Thomas Mirjam versorgte, wuchs,

Weitere Kostenlose Bücher