Es klopft
gehört nur mir, mir allein.
Im übrigen war Manuel ein guter und phantasievoller Liebhaber, und sie hatten den Spaß an den Begegnungen ihrer Körper bis heute nicht verloren. Oder sollte sie sich etwas Hauchdünnes anziehen und nochmals zu ihm hochgehen? Sie verwarf die Idee gleich wieder. Es war schön, wenn er ihre Briefe las, wieso sollte sie dieses Rendez-Vous mit seiner jungen Geliebten stören.
Dass ihn die Liebe seines Sohnes so beschäftigte …
Thomas war glücklich, ohne Zweifel, und, so Julias Eindruck, er hatte Grund dazu. Anna war jünger als Thomas, sie sprach baseldeutsch und war eine Frau von großer Anmut, eine Frau mit Witz und Charme und einer Leichtigkeit, die ihm, der oft zum Grübeln neigte, nur gut tun konnte. Ihm war vor einem Jahr seine erste langjährige Liebe abhanden gekommen, und eigentlich war sie auch Manuel und ihr abhanden gekommen, denn sie hatte bei ihnen verkehrt, und sie beide hatten Selma ins Herz geschlossen. Als diese dann Thomas bekannt gab, sie habe einen andern Mann kennen gelernt, mit dem sie Neues und Unbekanntes erlebe, und möchte sich probeweise von ihm trennen, wirkte er jedesmal energielos, ja apathisch, wenn er nach Hause
kam. Ihnen schrieb Selma nach einer Weile einen Abschiedsbrief, in dem sie sich kurz dafür bedankte, dass sie so gut aufgenommen worden sei, aber sie habe gemerkt, dass es für sie noch zu früh sei, um sich fest zu binden. Ein halbes Jahr später heiratete sie ihren Neuen und Unbekannten.
Deshalb beschloss Julia, mit der Sympathie, die sie sofort für Anna empfand, haushälterisch umzugehen. Wenn wieder einmal so ein Brief käme, hoffte sie, wäre er dann weniger schmerzlich. Zugleich merkte sie jedoch, wie schwierig es war, Zuneigung zu dosieren.
Auch Mirjam, die ebenfalls da gewesen war, hatte Gefallen an Anna, sie kannte sie schon länger. Mirjam besuchte wie Anna die Schauspielschule in Zürich und lebte mit zwei Freundinnen in einer Abbruchwohnung. Wenn aber dort zuviel Betrieb und Unruhe war, wie jetzt gerade, kam sie gerne für ein paar Tage nach Erlenbach zurück, wo ihr Zimmer unangetastet auf sie wartete.
Was wohl Manuel über Thomas’ neue Freundin dachte? Er hatte zuerst, was sie sich nicht erklären konnte, fast etwas erschrocken auf sie reagiert und war ein paarmal in seine linkischen Bewegungen verfallen, die sie an ihm früher so gemocht hatte. Vielleicht musste er sich einfach den Umgang mit Selma abgewöhnen. Seine Frage nach Annas Eltern allerdings hatte Julia als forsch und voreilig empfunden, so, als ginge es bereits um Heirat. Nun gut, dafür wusste sie jetzt, dass Annas Eltern schon früh geschieden waren, dass ihre Mutter vor vier Jahren an Gebärmutterkrebs gestorben war und sie mit dem Vater kaum noch Kontakt hatte. Um so erstaunlicher Annas heitere Art, die nur von einem Menschen kommen konnte, der bei sich selber war.
Julia musste auf einmal tief aufatmen.
Am liebsten wäre sie sofort zu Manuel hochgegangen und hätte mit ihm über alles gesprochen, hätte ihn gefragt, warum ihn Anna um den Schlaf gebracht hatte und ob er ihr von seinen Seitensprüngen erzählen wolle und ob sie ihm von ihren erzählen solle und ob er sich darauf freue, mit ihr alt zu werden und was er vom Gedanken halte, das Leben sei nur ein Traum und ob sie ihm einen blauen Seidenpiyama kaufen solle und ob er auch manchmal Angst habe, Angst vor dem Tod.
11
M irjam saß in ihrem Zimmer und hatte ihr Textbuch und ihre Notizen vor sich ausgebreitet. Übermorgen sollten die Proben für ihre Abschlussarbeit beginnen, und sie war immer noch nicht sicher, ob sie ihrem Konzept trauen sollte. Sie war Absolventin der Regieklasse, und ihre Aufgabe war, mit dem zweiten Jahrgang Büchners »Leonce und Lena« zu inszenieren. Sie hatte dafür fünf Wochen Zeit, und sie hatte einige Probleme damit.
Ein Problem war, dass sie das Stück, das Büchner als Komödie bezeichnete, nicht lustig fand. Ein anderes, noch schwereres, dass sie es eigentlich nicht verstand. Ein Prinz und eine Prinzessin sollen, ohne dass sie sich kennen, miteinander verheiratet werden, fliehen beide, lernen sich auf der Flucht kennen, ohne voneinander zu wissen, wer sie sind, kehren verkleidet zurück und werden vom König, der um jeden Preis eine Heirat will, weil er diese bereits verkündet hat, als Maskierte miteinander verheiratet, nehmen die Masken ab, und es zeigt sich, dass sie der Prinz und die Prinzessin sind, deren Hochzeit geplant war. Der Prinz freut sich, die
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