Es klopft
gekommen und es hätte vielleicht eine Freundschaft daraus werden können. Wenn er wegen so etwas böse werde, werde er sowieso kein richtiger Freund, hatte Anna darauf gesagt.
»Weißt du, was das Schlimmste war, das mir meine Mutter sagen konnte?«
Natürlich wusste es Thomas nicht.
»›Du warst doch mein Wunschkind.‹ Wenn das kam, redete sie nachher mindestens drei Stunden nicht mehr mit mir.«
»Aber dein Vater?«
»Kannte ich nicht wirklich. Sie ließen sich scheiden, als ich zwei war. Meine Mutter bekam das Sorgerecht, und der Vater war wohl froh, dass er sich nicht mit mir abgeben musste. Ich sah ihn zum erstenmal richtig an Mamas Beerdigung.«
»Und?«
»Und nichts. Ich mochte ihn nicht. So traurig wie an dem Abend war ich nie. Die Mutter verloren und den Vater auch.«
»Hätt ich dich doch in die Arme nehmen können«, sagte Thomas und zog sie an sich.
»Du nimmst mich jetzt in die Arme, das ist schön genug.«
Thomas kam es plötzlich unwahrscheinlich vor, dass er mit einer so schönen und begehrenswerten Frau im Bett lag.
»Weißt du was?« sagte er, »ich bin glücklich.«
»Weißt du was?« sagte Anna, »ich auch. Aber ich glaube, ich muss jetzt schlafen.«
»Ich werde dich bewachen«, sagte Thomas.
»Da bin ich froh«, murmelte Anna und drehte sich von ihm weg, »aber wehe, wenn du einschläfst dabei.«
Thomas kuschelte sich an ihren Rücken und hielt seinen Arm so über ihr, dass er mit der Hand ihre Haare spürte.
Früher hatte er sich immer so etwas vorgestellt in seinen Phantasien, dass einmal eine Frau mit einem schweren Schicksal Zuflucht bei ihm suchen würde, und er würde dann seine ganzen Kräfte für sie einsetzen. Allerdings hatte er sich die Frau schwächer vorgestellt, schiffbrüchig fast, und er der Retter.
Anna war nicht schwach, im Gegenteil, sie wusste genau, was sie wollte, und sie wusste es auch ohne ihn. Woher nur? Sie war vier Jahre jünger als er. Vor vier Jahren hatte er sein Medizinstudium abgebrochen und sich entschieden, statt dessen Umweltnaturwissenschaften zu studieren. Es hatte viel gebraucht, bis er so weit gewesen war.
Thomas versuchte sich vorzustellen, er wäre nur mit seiner Mutter aufgewachsen, als einziges Kind. Kein Türmchenhaus, kein Erlenbach, keine Mirjam, sondern eine Dreizimmerwohnung in einem reizlosen Außenquartier Zürichs, Schwamendingen oder Oerlikon. Über Mittag im Kinderhort,
Winterferien in einem städtischen Schullager im Wallis. Und dann, ein Jahr vor der Matur, wäre seine Mutter an einer qualvollen Krankheit gestorben, und an der Trauerfeier wäre irgendein mürrischer Prokurist auf ihn zugetreten, hätte ihm die Hand gereicht und gesagt: »Ich bin dein Vater.«
Er konnte es nicht wirklich. Aber die Frau an seiner Seite, die bereits tief und regelmäßig atmete, brauchte sich das nicht vorzustellen, sie hatte es erlebt. Nochmals stieg eine Welle von Glück in ihm hoch, dass er ausgerechnet diese Frau lieben durfte und dass sie ihn auch liebte. Dass er sie beschützen wollte, hatte er im Spaß gesagt vorhin, aber es war ihm ernst. Bloß wovor? Hatte sie nicht das Schlimmste schon hinter sich?
Was hätte ihm denn gefehlt ohne seinen Vater? Die Bergtouren, auf den Piz Languard, auf den Piz Tschierva, hätte er die mit seiner Mutter auch gemacht? Seine Mutter ging gerne durch Täler, einen schäumenden Bergbach entlang, über Pässe und dann einen andern schäumenden Bergbach entlang wieder hinunter, aber ein Berggipfel war immer Männersache gewesen, seit Thomas zwölf oder dreizehn gewesen war.
Gespräche konnte er mit seiner Mutter eher besser führen, aber die Ernsthaftigkeit, mit der sein Vater seinen Beruf ausübte, und das Selbstverständliche daran, das hatte ihn immer beeindruckt. Schon bald nach seinem Eintritt in die Kantonsschule gab er seinen Berufswunsch mit Arzt an, es kam ihm einfach nichts anderes in den Sinn. Er wollte auch so einer werden, wie sein Vater einer war. Deshalb hatte er den Moment gefürchtet, als er seinen Entschluss bekannt gab, das
Medizinstudium abzubrechen, und um so überraschter war er über Vaters Reaktion gewesen. Er hatte nur leicht die Augenbrauen gehoben und gefragt: »Du hast also gemerkt, dass dich die Umwelt stärker interessiert als die Medizin?« Als Thomas zur Antwort gab, ja, das sei so, sagte sein Vater bloß: »Dann ist es in Ordnung. Besser du merkst es jetzt als nach deinem dritten Jahr als Assistenzarzt.«
Darüber war die Mutter erschrocken und hatte den Vater gefragt,
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