Es muß nicht immer Kaviar sein
lange nach. Dann sprang sie auf und lief ins Badezimmer. Als sie zurückkam, brachte sie einen Bademantel mit.
»Zieh das an!«
»Wo willst du hin, Schätzchen?«
»Auf den Boden natürlich!« rief sie und stolperte auf hochhackigen Seidenpantoffeln bereits vor ihm her zur Tür.
Der Boden war groß und vollgeräumt. Es roch nach Holzwolle und Naphthalin. Estrella hielt eine Taschenlampe, während Thomas keuchend einen alten Holzkoffer unter einem zusammengerollten Riesenteppich hervorwuchtete. Er stieß sich den Schädel an einem Balken an und fluchte. Estrella kniete neben ihm nieder. Mit vereinten Kräften stemmten sie den knarrenden Deckel hoch. Formulare, Bücher, Stempel und Pässe lagen darin. Pässe zu Dutzenden! Mit fliegenden Fingern griff Estrella nach ihnen, blätterte darin, in diesem, in jenem, in fünf, in acht, in vierzehn Pässen. Die Pässe waren ohne Ausnahme alt und fleckig. Fotos fremder Menschen klebten in ihnen, zahllose Stempel bedeckten die Seiten. Lauter abgelaufene Pässe.
Abgelaufen … Abgelaufen … Ungültig …
Tief enttäuscht richtete Estrella sich auf: »Kein einziger neuer Paß, lauter alte … Mit denen können wir nichts anfangen …«
»Im Gegenteil«, sagte Thomas Lieven leise und gab ihr einen Kuß: »Alte, ungültige Pässe sind die besten!«
»Das verstehe ich nicht …«
»Das wirst du gleich verstehen«, versprach Thomas Lieven, alias Jean Leblanc, vergnügt. Er fühlte nicht den Eishauch seines Schicksals, das hinter ihn trat und sich hoch aufrichtete wie der Flaschengeist aus dem orientalischen Märchen, bereit, von neuem zuzuschlagen und ihn hineinzuschleudern in einen Strudel neuer Abenteuer und Gefahren.
7
Gemessenen Schrittes, einen Homburg auf dem Haupt, eine große Ledertasche in der Hand, bewegte sich gegen die Mittagsstunde des 4. September 1940 ein eleganter junger Herr von höchst vorteilhafter Erscheinung durch das Labyrinth der Alfama, der Altstadt von Lissabon.
In den winzigen krummen Gassen mit ihren verwitterten Rokokopalästen und buntgekachelten Bürgerhäusern spielten barfüßige Kinder, debattierten dunkelhäutige Männer, eilten Frauen zum Markt, Körbe voll Obst oder Fische auf dem Kopf. Schneeweiße Wäsche hing an unzähligen Leinen. Schwarze Eisengitter glänzten vor hohen maurischen Fenstern. Bizarr verkrüppelte Bäume wuchsen auf geborstenen Steintreppen. Und immer wieder öffneten sich die Mauern und gaben den Blick frei auf den nahen Fluß.
Der elegante junge Herr betrat einen Metzgerladen. Hier erwarb er ein ansehnliches Stück Kalbsfilet. Im Laden nebenan kaufte er eine Flasche Madeira, einige Flaschen Rotwein, Olivenöl, Mehl, Eier, Zucker und allerlei Gewürze. Auf dem in tausend Farben glühenden Marktplatz endlich erstand er ein Pfund Zwiebeln und zwei schöne Salatköpfe.
Vor der Marktfrau zog er den Hut und verneigte sich zum Abschied mit einem gewinnenden Lächeln.
Nun strebte er der engen dunklen Rua do Poco des Negros entgegen, wo er den Hof eines halbverfallenen Hauses betrat.
Die sanitären Einrichtungen dieses Gemäuers boten sich ihm sogleich in Form vieler verwitterter Holzverschläge dar, die auf schmalen Balkonen standen. Ein Netz dazugehöriger Röhren zog sich an den Mauern dahin. Wie das Astwerk eines Ariernachweises, dachte Thomas Lieven.
Ein blinder Greis saß in einer sonnigen Ecke des Hofes, zupfte auf einer Gitarre und sang dazu mit dünner, hoher Stimme:
»Was mein Schicksal mir erkor,
läßt mich nie.
Einzig kenn’ ich nur die Trauer,
denn für mich ist sie geboren,
ich für sie …«
Thomas Lieven legte Geld in den verbeulten Hut des alten Sängers, dann sprach er ihn portugiesisch an: »Diga-me, por favor, wo wohnt Reynaldo, der Maler?«
»Sie müssen den zweiten Eingang nehmen; Reynaldo wohnt ganz oben, unter dem Dach.«
»Muito obrigado«, sagte Thomas Lieven, und wieder lüftete er höflich den Homburg, obwohl der Blinde das doch gar nicht sehen konnte.
Im Treppenhaus des zweiten Eingangs war es dunkel. Je höher Thomas stieg, um so heller wurde es. Er hörte viele Stimmen. Es roch nach Olivenöl und Armut. Im obersten Stock gab es nur noch zwei Türen. Die eine führte zum Boden hinauf, an der anderen stand, mit großen roten Buchstaben hingeschmiert:
REYNALDO PEREIRA
Thomas klopfte. Es blieb still. Er klopfte lauter. Nichts rührte sich. Er drückte die Klinke herab. Die Tür öffnete sich knarrend. Durch einen dunklen Vorraum trat Thomas Lieven in ein großes
Weitere Kostenlose Bücher