Es muss nicht immer Mord sein
dann
vor den Wörtern >Frau< oder >Mann< zu scheuen. Entweder man glaubt
an die Institution oder nicht.
»Jonathan hat mir gerade von seinem Stück
erzählt«, sagte ich. »Haben Sie auch damit zu tun?«
»Natürlich«, sagte sie in einem Ton, als sei sie
ein wenig erstaunt. »Wir teilen alles miteinander.«
Leute, die häufig das Wort >teilen<
verwenden, sind meiner Erfahrung nach besonders besitzgeil und knauserig.
»Ich bin überrascht, daß Sie uns nicht proben
gehört haben«, fügte sie hinzu.
Ich schaute verwirrt drein.
»Wir sind Ihre Nachbarn. Ach, Jonathan, hast du
ihr das nicht gesagt?«
»Aber... ich hatte gedacht...« Ich hatte
gedacht, meine Nachbarn seien eine namenlose, unterdrückte Frau und Simon, ihr
brutaler Freund. Ich war unglaublich verlegen, doch ebenso entschlossen, es
nicht zu zeigen.
»Ach, nein«, sagte ich rasch. »Ich hab’ nicht
das Geringste gehört. Ich bin viel außer Haus.«
»Sophie war letztes Jahr auch in Edinburgh. Sie
ist Kabarettistin«, sagte Jonathan.
»Kabarettistin«, wiederholte Melanie mit einem amüsierten
Lächeln. »Wie faszinierend! Eine Kabarettistin, die im Badezimmer gern
Schnulzen singt...«
Ich vermutete, daß sie sich auf meine
improvisierten Karaoke-Sitzungen mit Patsy Clines Greatest Hits bezog.
Es war eine harte Woche gewesen.
Ich merkte, daß Melanie mich auf Anhieb so wenig
gemocht hatte wie ich sie.
»Fahren Sie dieses Jahr nach Edinburgh?«
erkundigte sie sich, sah dann aber auf die Uhr und fügte, ohne die Antwort
abzuwarten hinzu: »Liebling, wir müssen wirklich los. Dipak hat zwei Uhr gesagt.«
Ich nahm an, daß sie damit einen brillanten
jungen Bühnenautor aus Indien meinte, der in ganz London gefeiert wurde. Er war
einer der wenigen Leute, die man allein beim Vornamen nennen und sich dabei
sicher sein konnte, daß die anderen sowohl verstanden, von wem man sprach, als
auch, daß man auf vertrautem Fuß mit ihm stand.
»Wir müssen uns irgendwann mal treffen«, sagte
Jonathan, als sie gingen.
»Aber unbedingt«, erwiderte ich mit gleicher
Aufrichtigkeit.
Als Elena sah, daß man mich momentan meinem Schicksal
überlassen hatte, kam sie mit einem Glas Wein herüber, das ich rasch austrank.
Das ganze Zusammentreffen mit den Stones hatte mich genervt und mein Vertrauen
in meine Urteilskraft unterminiert.
Zunächst mal hatte ich begonnen, mit einem Mann
zu flirten, der eindeutig ein Idiot war, und — noch wichtiger — ich hatte mir
anhand von ein paar belauschten Sätzen ein Szenario über meine Nachbarn
zusammengereimt, das ganz offensichtlich falsch war. (Ich hatte es sogar mit
Jools diskutiert, weil ich einen Rat haben wollte, ob ich daran denken sollte
einzuschreiten.)
»Sie ist gräßlich, nicht wahr?« Ich lachte,
erleichtert, daß Elena meine Einschätzung teilte, und als Melanie davonging,
bemerkte ich zu meiner Freude, daß sich — obschon sie sehr schlank war — deutlich
sichtbar der Saum ihres Slips abzeichnete und die Linie ihres
Nicole-Farhi-Kleides ruinierte.
»Kennen Sie Liz schon?« fragte Elena und griff
nach dem Arm der Frau, die lautlos neben ihr stehengeblieben war.
Elena ist eine ziemlich kräftige Frau, die sich
gern in satten Farben kleidet, die leuchten wie ein Buntglasfenster. Ihr
dichtes schwarzes Haar ist dick, beinahe drahtig, und sie verwendet schwarzen
Eyeliner um die dunklen Augen und dunklen, blauroten Lippenstift. Sie trug ein
kirschrotes T-Shirt und einen langen, voluminösen Rock, der aus einer indischen
Tagesdecke gemacht war — die Sorte, die gerade wieder in Mode kam, obschon ich
vermutete, daß Elena ihr Exemplar getragen hatte, seit sie es Anfang der
Siebziger Jahre gekauft hatte.
Neben ihr war Liz in ihrem pastellrosa
Sommerkleid so blaß, daß sie beinahe durchsichtig wirkte. Sie war ein wenig
größer als ich und zierlich gebaut; zuerst dachte ich, sie sei ungefähr in
meinem Alter, aber ihre nackten Oberarme hatten diese verräterische Fleischigkeit,
die sich bei Frauen Mitte Dreißig einzustellen scheint. Ihr Haar war
schulterlang und hellbraun. Es sah aus, als könne es gut fünf Zentimeter
weniger vertragen, um es wieder in Form zu bringen. Ihr Gesicht war blaß, ohne jede
Spur von Make-up, und wenn sie lächelte — ein überraschend breites Lächeln, das
Grübchen zeigte — leuchtete es auf. Ihre Augen waren grau und deutlich rot
gerändert. Ich fragte mich, ob sie Heuschnupfen hatte.
»Hi, Liz«, sagte ich.
»Liz ist gerade in die Wohnung unter Ihnen eingezogen«,
sagte
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