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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Schulberater vielleicht bemerkt, dass er nicht normal war; möglicherweise wäre er zu einem Kinderpsychologen geschickt worden, und dieser hätte vermutlich die finsteren, beängstigenden Abgründe hinter diesem glatten, blassen Mondgesicht entdeckt (vielleicht aber auch nicht, denn Patrick war weitaus schlauer, als sein niedriger IQ vermuten ließ).
    Er war ein Soziopath, und an diesem heißen Julitag des Jahres 1958 war er möglicherweise schon zu einem ausgewachsenen Psychopathen herangereift. Selbst in frühester Kindheit hatte er andere Menschen – oder andere Lebewesen – nicht für »real« gehalten. Er glaubte von sich, ein existierendes Lebewesen zu sein, vielleicht sogar das Einzige im ganzen Universum, war aber keinesfalls überzeugt davon, dass diese Existenz ihn »real« machte. Das Bewusstsein, anderen Lebewesen Schmerzen zuzufügen, ging ihm völlig ab, und auch sein eigenes Schmerzempfinden war sehr unterentwickelt (die Teilnahmslosigkeit, mit der er Henrys Schlag auf den Mund hingenommen hatte, war ein Beweis dafür). Obwohl die Realität für ihn ein Konzept ohne jegliche Bedeutung darstellte, begriff er das Konzept von »Regeln« durchaus. Zwar hielten alle seine Lehrer ihn für einen höchst eigenartigen Jungen (sowohl Mrs. Douglas, seine Lehrerin in der fünften Klasse, als auch Mrs. Weems, die Patrick in der dritten Klasse unterrichtet hatte, wussten von dem Stiftkasten voller Fliegen; aber trotz gewisser Schlussfolgerungen, die sie unweigerlich daraus ziehen mussten, hatten sie mit den übrigen zwanzig bis achtundzwanzig Schülern genügend andere Probleme), doch bereitete er ihnen kaum Schwierigkeiten, was die Disziplin betraf. Er brachte es fertig, bei Klassenarbeiten ein völlig leeres Blatt abzugeben – oder ein leeres Blatt, das nur mit einem großen Fragezeichen geschmückt war -, und Mrs. Douglas wusste, dass man ihn möglichst von Mädchen fernhalten musste, weil er seine Hände nicht bei sich behalten konnte. Aber er war sehr still, so still, dass man ihn manchmal für einen Lehmklumpen hätte halten können, den jemand grob zu einer Jungenfigur geknetet hatte. Es war leicht, den stillen Patrick einfach zu ignorieren, wenn man mit Jungen wie Henry Bowers und Victor Criss fertigwerden musste, die frech und aufsässig waren, das Milchgeld anderer Kinder stahlen oder absichtlich Schuleigentum zerstörten, wann immer sie die Möglichkeit dazu hatten; oder wenn man es mit Mädchen wie der armen Elizabeth Taylor zu tun hatte, einer Epileptikerin, deren Gehirnzellen nur sporadisch arbeiteten, und die daran gehindert werden musste, auf dem Spielplatz ihr Kleid hochzuziehen und ihr neues Unterhöschen vorzuführen. Kurz gesagt, die Derry-Elementary-Schule war ein typisches Beispiel für den komplizierten Erziehungszirkus, einen Zirkus mit so vielen Arenen, dass vielleicht sogar Pennywise in höchsteigener Person nicht aufgefallen wäre. Und natürlich vermutete keiner von Patricks Lehrern (ebenso wenig wie seine Eltern), dass er im Alter von fünf Jahren sein kleines Brüderchen Avery ermordet hatte.
    Es hatte Patrick gar nicht gefallen (zumindest redete er sich das anfangs ein), als seine Mutter mit Avery aus dem Krankenhaus zurückgekommen war. Es war ihm egal, ob seine Eltern zwei Kinder hatten, fünf oder fünf Dutzend, solange dadurch sein eigenes Leben wie gewohnt weiterging. Aber er stellte fest, dass sich mit Averys Geburt vieles veränderte. Das Essen kam zu spät auf den Tisch. Das Baby schrie nachts und weckte ihn auf. Es kam ihm vor, als wären seine Eltern nur noch bei Averys Wiege, und wenn er versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, gelang es ihm oft nicht. Patrick bekam es mit der Angst zu tun – was bei ihm sehr selten war -, denn ihm dämmerte langsam, wenn seine Eltern ihn, Patrick, aus dem Krankenhaus mit nach Hause gebracht hatten und er »real« war, Avery vielleicht auch »real« sein könnte. Und das könnte sogar dazu führen, dass seine Eltern beschließen würden, ihn, Patrick, ganz loszuwerden, sobald Avery gehen und sprechen, seinem Vater die Derry News von der Treppe holen und seiner Mutter beim Brotbacken die Schüsseln reichen konnte. Er befürchtete nicht, dass seine Eltern Avery mehr liebten als ihn (obwohl das für Patrick offensichtlich war, und in diesem Fall mochte er sogar recht gehabt haben); wovor er tatsächlich Angst hatte, war (1) die Regeln, die gebrochen wurden oder seit Averys Geburt geändert worden waren, (2) die Tatsache, dass

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