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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Prügel verpassen. Prügel …
    Tom war das älteste von vier Kindern gewesen. Drei Monate nach der Geburt des jüngsten Kindes war Ralph Rogan gestorben – na ja, auch »gestorben« war vielleicht nicht ganz das richtige Wort, »hatte Selbstmord begangen« wäre wohl der korrektere Ausdruck gewesen, denn er hatte einen großzügigen Schuss Lauge in seinen Gin gekippt und das Teufelsgesöff dann auf dem Klo sitzend ausgetrunken. Jedenfalls hatte Mrs. Rogan Arbeit im Ford-Werk gefunden, und Tom musste mit seinen elf Jahren den Mann im Haus spielen. Und wenn er irgendetwas falsch machte – wenn das Baby sich vollgeschissen hatte, nachdem der Babysitter gegangen war, und die Windeln immer noch voll waren, wenn seine Mutter heimkam … wenn er vergaß, Megan an der Ecke der Broad Street vom Kindergarten abzuholen, und diese neugierige Mrs. Gant sah es … wenn er sich im Fernsehen die wöchentliche Chartshow ansah, während Joey die Küche in ein Schlachtfeld verwandelte … wenn eins dieser Dinge oder tausend anderer passierte … dann holte seine Mutter den Rohrstock, sobald seine kleinen Geschwister abends im Bett waren, und rief die Einleitungsformel: Komm her, Tommy, ich muss dir eine Tracht Prügel verpassen …
    Besser man war der Prügler als der Geprügelte.
    Wenn er auf der großen Mautstraße des Lebens auch nicht viel gelernt hatte, dann zumindest das.
    Er zog die Schlinge des Gürtels enger um seine Hand. Es fühlte sich gut. Es fühlte sich erwachsen an. Der Gürtel hing von seiner geballten Faust herab wie eine tote Natter. Sein Kopfweh war verschwunden.
    Sie hatte inzwischen ganz hinten in der Schublade gefunden, was sie noch gesucht hatte – einen alten weißen Baumwoll-BH mit verstärkten Körbchen. Ganz flüchtig war ihm der Gedanke durch den Kopf geschossen, ob ihr nächtlicher Anruf nicht von einem Liebhaber sein könnte … aber das war natürlich lächerlich. Eine Frau, die zu ihrem Liebhaber fahren will, packt nicht gerade ihre verwaschene Marinebluse und ihre ältesten Baumwollunterhöschen mit ausgeleiertem Gummizug ein. Und außerdem würde sie so etwas nie wagen.
    »Beverly«, sagte er leise, und sie drehte sich ruckartig nach ihm um, mit wehenden langen Haaren und weit aufgerissenen Augen.
    Die Hand, die den Riemen hielt, zögerte … senkte sich etwas. Er starrte sie an, und wieder stieg dieses leichte Unbehagen in ihm auf. Ja, genauso hatte sie vor den großen Modenschauen ausgesehen, und damals hatte er sich ihr lieber nicht in den Weg gestellt, denn er hatte begriffen, dass sie mit einer Mischung aus Angst und Aggressivität so angefüllt war, dass ein falsches Wort oder eine falsche Bewegung auf sie die gleiche Wirkung haben würde wie ein Funken in einem mit Leuchtgas gefüllten Raum; sie wäre einfach explodiert. Sie hatte die Modenschauen nicht als Chance betrachtet, sich von Delia Fashions lösen und ihren Lebensunterhalt (oder vielleicht sogar ein Vermögen) selbstständig verdienen zu können. Wenn es nur das gewesen wäre, hätte das kein Problem dargestellt. Aber wenn es tatsächlich nur das gewesen wäre, dann wäre sie auch nicht so ungeheuer talentiert gewesen. Für sie waren diese Modenschauen vielmehr eine Art Oberexamen gewesen, das sie vor grimmigen Lehrern ablegen musste. Was sie bei diesen Gelegenheiten gesehen hatte, war eine Kreatur ohne Gesicht gewesen. Ja, sie war gesichtslos aber sie hatte doch einen Namen: Autorität.
    Und das stand ihr auch jetzt ins Gesicht geschrieben. Nein, nicht nur ins Gesicht. Es war eine fast sichtbare Ausstrahlung um ihre ganze Gestalt, eine Hochspannung, die sie plötzlich reizvoller und gefährlicher auf ihn wirken ließ. Er hatte Angst, weil sie hier war, ihr eigentliches Ich, das sich grundlegend von der Frau unterschied, die Tom in ihr sehen wollte, zu der er sie gemacht hatte.
    Sie sah geschockt und ängstlich aus, wirkte aber zugleich irrsinnig aufgekratzt. Ihre Wangen glühten hektisch, unter den Unterlidern hatte sie weiße Flecken, die fast wie ein zweites Augenpaar aussahen. Ihre glänzende Stirn reflektierte das Licht.
    Und die Zigarette ragte immer noch aus ihrem Mund, jetzt leicht nach oben geneigt, als wäre sie der elende Franklin Delano Roosevelt. Die Zigarette! Wenn er sie nur sah, spülte dumpfe Wut wie eine grüne Woge über ihn hinweg. Ganz dunkel und schwach erinnerte er sich an etwas, was sie eines Nachts im Dunkeln zu ihm gesagt hatte, mit dumpfer, tonloser Stimme: Eines Tages wirst du mich umbringen, Tom. Weißt

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