Es sterben immer drei
Radio wagte sie sich nicht, aus Angst, danach die Einzelteile nicht wieder in der richtigen Reihenfolge zusammengeschraubt zu kriegen und sich einen Stromschlag zu holen. Langsam kam sie sich albern vor. Aber andererseits war sie inzwischen sicher, dass Valerie irgendwo einen Stick versteckt haben musste. Wenn sie ihn vor Jochen hätte verbergen wollen, dann garantiert nicht da, wo er ihn sofort finden könnte.
Sie ging zurück in das leer geräumte Zimmer, legte sich auf das frisch gemachte Bett und starrte ins Gebälk. Valerie, dachte sie, falls du dich da oben gerade über meine dilettantischen Versuche, dich zu rächen, kringelig lachst, hilf mir. Und wenn es nur ein bisschen ist. Ergebnislos drehte sie im Zimmer ihre Runden wie in einer Gefängniszelle und hoffte auf die Erleuchtung. Die ließ auf sich warten. Selbst das Buch, das sie aus einem zerfledderten Stapel in der Küche gezogen hatte, um Ablenkung zu finden, wenn alles Denken sich nur noch im Kreis drehte, half nicht weiter. John Irvings ›Zirkuskind‹, ein Wälzer voller grotesker Gestalten, das sie vor Jahren schon mal amüsiert gelesen hatte. Lustlos blätterte sie darin herum. Bombays Kinderprostituierte und zwergenhafte Taxifahrer halfen ihr jetzt auch nicht weiter. »Kann ich das Ding sehen, mit dem sie den Taxifahrer geschlagen haben«, las sie und einen Absatz weiter: »Nancy gab Inspektor Patel den Dildo und setzte sich wieder ans Fußende ihres Bettes.« Stella setzte sich auch ans Fußende ihres Bettes. Ratlos.
Ihre esoterischen Freundinnen, und davon gab es jede Menge, schworen auf den Trick, in problematischen Lebenslagen einfach ein Buch aufzuschlagen, und den ersten Satz, auf den ihr Blick fiel, als Inspiration zu nehmen für einen Rat. Was sollte sie nun mit dieser Stelle aus ›Zirkuskind‹ anfangen? Siehatte es mit Lehrern, Landärzten, Büroangestellten und ähnlich normalen Menschen zu tun, nicht mit Zwergen und Seiltänzern, der Trick funktionierte nicht. Erbittert schlug sie das Buch zu. Vielleicht musste sie statt John Irving doch ihre Mutter um Rat fragen. Sie stand auf und setzte sich mit einem Ruck wieder. Und dann schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Zu blöd, dass ihr erst jetzt wieder die grotesken Heimlichkeiten deutscher Oberstudienrätinnen einfielen. Ein bisschen Irving steckt doch in uns allen, dachte sie, während sie quer über den Flur in das Zimmer von Renate und Andreas schlich. Atemlos lauschend, ob auch wirklich niemand kam, öffnete sie die Nachttischschublade und zog unter dem Brief des 5.Jg. Lehrbtl. 357 den künstlichen Penis heraus. Wirklich ein selten hässliches Teil in diesem Schweinerosa, naturgetreu mit allen Adern, die wulstige Vorhaut plastisch herausgearbeitet. Dick wie eine holländische Treibhausgurke der Güteklasse A. Stella nahm nicht an, dass Andreas von der Natur gleichermaßen großzügig bestückt worden war, dann wäre er ein Fall für ein medizinisches Handbuch, sondern unterstellte ihm eher, seine gottgegebenen Schwächen künstlich auszugleichen. Sie schraubte den hinteren Teil auf und schüttelte die Batterien heraus. Darunter wäre noch Platz für einen USB-Stick, aber leider hatte Valerie auch dieses Versteck verschmäht. Bis auf die Batterien war der künstliche Penis leer. Stella schraubte ihn wieder zusammen und ließ nur spaßeshalber das Ding ein bisschen vibrieren. Ob Renate der Sex damit wirklich gefiel? Sie schaltete auf volles Tempo. Die rosa Gurke schlingerte bedrohlich und surrte eifrig wie eine Küchenmaschine. Hausfrauen törnte das Geräusch beim Sex vielleicht an.
Als Andreas mit einer Leiter ins Zimmer trat, war es zu spät für die Ausrede von der Suche nach dem Klo. Andreas starrte Stella an, während sie ihm mit vor Schreck geweiteten Augen den Riesenpenis entgegenhielt, als müsse sie Graf Dracula abwehren. Das Nächste, was Stella hörte, war das Geräusch einerscheppernden Leiter. Sie schaltete den Vibrator ab und legte ihn mit zitternden Händen zurück in sein Versteck. »Ich wusste gar nicht, dass du bei der Bundeswehr warst«, sagte sie.
»Ja, aber nur als Sanitäter.« Er hob die Leiter wieder auf und lehnte sie an die Wand. Sie verließ schnell den Raum. Was gab es da noch zu erklären? Kalt erwischt. Sie ging zurück in ihr Zimmer, legte sich aufs Bett und wartete, ob Andreas ihr vielleicht folgen würde. Es blieb alles still. Sie zitterte immer mehr, statt sich abzuregen. Investigativer Journalismus war eindeutig zu viel für ihre
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