Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
Interessantes, bis plötzlich:
    -Sagen Sie mir, wo Sie sind.
    Eine kristallklare Wortkette an der Peripherie eines kraftvollen, gelassenen Geistes. Der Satz kam mit dem Nachdruck einer gezielt an ihn gerichteten Botschaft. Und dennoch war Selig klar, daß hier keineswegs eine aktive Übertragung stattgefunden hatte; er hatte lediglich Worte gefunden, die passiv bereitlagen. Rasch antwortete er:
    - Pierrepont Street 35.
    - Das weiß ich. Aber wo sind Sie in diesem Haus?
    -Dritter Stock.
    -Ich bin im siebten. Wie heißen Sie?
    -Selig.
    - Nyquist.
    Der geistige Kontakt war verblüffend intim, beinahe sexuell, als stoße er in einen Körper vor und nicht in einen Geist, und die volltönende Maskulinität der Seele, in die er eingedrungen war, machte ihn verlegen; er hatte das Gefühl, daß eine so enge Verbindung mit einem anderen Mann etwas Unerlaubtes sei.
    Aber er zog sich nicht zurück. Dieser rasche, mentale Wortwechsel quer über den Abgrund der Dunkelheit hinweg war zu wunderbar, zu erfreulich, um ihn wieder abzubrechen. Vorübergehend wiegte sich Selig in der Illusion, er habe seine Gabe erweitert, habe gelernt, nun auch zu senden, statt nur den Geist anderer Menschen anzuzapfen. Aber er wußte, daß das eine Illusion war. Er sendete nicht, und auch Nyquist sendete nicht. Er und Nyquist lasen nur einer in des anderen Gedanken. Jeder hielt die Sätze für den anderen bereit, so daß dieser sie leicht finden konnte, und das war im Grunde nicht ganz dasselbe, als hätten sie die Sätze gesendet. Der Unterschied war jedoch bedeutungslos; der Endeffekt der Juxtaposition zweier Empfänger war ein ebenso zuverlässiger Sende-/Empfangs-Kreis wie das Telefon. Die Verbindung zweier reiner Seelen, die durch kein Hindernis gestört werden darf. Vorsichtig, schüchtern tastete sich Selig in die unteren Bewußtseinsschichten Nyquists vor, um nicht nur die Botschaften, sondern den Mann kennenzulernen, und spürte gleichzeitig in den Tiefen seines eigenen Geistes eine vage Unruhe, vermutlich ein Zeichen dafür, daß Nyquist dasselbe auch bei ihm versuchte. Minutenlang erforschten die beiden einander wie Liebende mit ihren ersten Zärtlichkeiten, und doch war überhaupt nichts Liebevolles an Nyquists Berührung, denn sie war kühl und unpersönlich. Trotzdem zitterte Selig, hatte das Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen. Endlich zogen sich beide behutsam zurück. Dann, von Nyquist:
    -Kommen Sie rauf. Ich werde Sie am Lift abholen.
    Er war größer, als Selig erwartet hatte, ein Riese von einem Mann, die blauen Augen abweisend, das Lächeln reine Höflichkeit. Er war zurückhaltend, ohne direkt kalt zu sein. Zusammen gingen sie in seine Wohnung: weiches Licht, unbekannte Musik, eine Atmosphäre unauffälliger Eleganz. Nyquist bot ihm einen Drink an, und dann unterhielten sie sich, vermieden es aber, die Gedanken des anderen zu lesen. Es war ein ruhiger Besuch, ganz unsentimental, ohne Freudentränen darüber, daß sie einander endlich gefunden hatten. Nyquist aber freundlich, zugänglich, erfreut, daß Selig gekommen war, aber keineswegs außer sich vor Freude über die Entdeckung eines ebenfalls mit der Gabe Gesegneten. Das hatte seinen Grund vielleicht darin, weil er schon anderen Telepathen begegnet war. »Sie sind der dritte, vierte, fünfte, den ich kennenlerne, seit ich in die Vereinigten Staaten gekommen bin. Warten Sie: einer in Chicago, einer in San Francisco, einer in Miami, einer in Minneapolis. Sie sind der fünfte. Zwei Frauen, drei Männer.«
    »Stehen Sie mit den anderen noch in Verbindung?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Wir haben uns aus den Augen verloren«, erklärte Nyquist. »Was hatten Sie denn erwartet? Daß wir einen Verein gründen? Auf keinen Fall. Wir haben uns unterhalten, wir haben mit unserer Gabe herumgespielt, wir haben uns gründlich kennengelernt, und nach einer Weile wurde es uns dann langweilig. Zwei von ihnen sind, glaube ich, gestorben. Es macht mir nichts aus, von den übrigen meiner Art getrennt zu sein. Ich sehe mich nicht als Angehörigen eines Clans.«
    »Ich habe nie einen anderen kennengelernt. Bis heute«, sagte Selig.
    »Das ist unwichtig. Viel wichtiger ist, daß man sein eigenes Leben lebt. Wie alt waren Sie, als Sie entdeckten, daß Sie die Gabe besitzen?«
    »Ich weiß nicht mehr. Fünf oder sechs, glaube ich. Und Sie?«
    »Daß ich etwas Besonderes bin, habe ich erst gemerkt, als ich elf Jahre war. Bis dahin dachte ich, das könnten alle. Erst als ich hier in den Staaten

Weitere Kostenlose Bücher