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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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die Menschen in einer anderen Sprache denken hörte, wußte ich, daß etwas Außergewöhnliches an mir war.«
    »Was arbeiten Sie?« erkundigte sich Selig.
    »Ich arbeite so wenig wie möglich«, antwortete Nyquist grinsend und bohrte seine Fühler abrupt in Seligs Geist. Es schien eine Art Einladung zu sein, die Selig akzeptierte. Auch er streckte seine Antennen aus. In Nyquists Bewußtsein herumtastend, entdeckte er schnell die Information über dessen Ausflüge in die Wall Street. Er sah das ganze ausgeglichene, rhythmische, gelassene Leben des Mannes und war verblüfft über seine Abgeklärtheit, seine Ganzheit, die Klarheit seines Geistes. Wie glatt Nyquists Seele war! Wie unverletzt vom Leben! Wo verbarg er seinen Schmerz? Wo versteckte er seine Einsamkeit, seine Ängste, seine Unsicherheit? Nyquist, der sich aus ihm zurückzog, fragte: »Warum bemitleiden Sie sich selbst so sehr?«
    »Tue ich das?«
    »Ihr ganzer Kopf ist voll davon. Was haben Sie für ein Problem, Selig? Ich habe in Sie hineingeschaut, aber ich konnte das Problem nicht entdecken, ich sehe nur die Qual.«
    »Mein Problem ist, daß ich mich von anderen Menschen isoliert fühle.«
    »Isoliert? Sie? Sie können etwas, was 99,999 Prozent der Menschheit nicht kann. Die anderen müssen sich abmühen, Worte suchen, annähernde Begriffe, Semaphorsignale, während Sie direkt auf den Kern der Bedeutung zustoßen. Wie können Sie vorgeben, isoliert zu sein?«
    »Die Informationen, die ich bekomme, sind nutzlos«, antwortete Selig. »Sie bieten mir keine Handlungsgrundlage. Es wäre besser, wenn ich überhaupt keine Gedanken läse.«
    »Warum?«
    »Weil es doch bloß Voyeurismus ist. Widerliche Spioniererei.«
    »Haben Sie ein schlechtes Gewissen deswegen?«
    »Sie etwa nicht?«
    »Ich habe nicht um meine Gabe gebeten«, entgegnete Nyquist. »Ich habe sie zufällig bekommen. Und da ich sie habe, benutze ich sie auch. Mir gefällt das Leben, das ich führe. Ich selbst gefalle mir ebenfalls. Warum mögen Sie sich selbst nicht, Selig?«
    »Sagen Sie es mir.«
    Aber Nyquist hatte ihm nichts zu sagen, und so trank er seinen Whisky aus und ging wieder hinunter. Als er sein eigenes Apartment betrat, erschien es ihm so sonderbar fremd, daß er sich ein paar Minuten lang nur mit vertrauten Artefakten beschäftigte: mit dem Foto seiner Eltern, mit der kleinen Sammlung Liebesbriefe aus seiner Jugend, mit der Plastikkugel, die ihm vor Jahren der Psychiater geschenkt hatte. Nyquists Gegenwart summte immer noch in seinem Schädel – ein Residuum seines Besuchs, weiter nichts, denn Selig war überzeugt, daß Nyquist jetzt nicht seine Gedanken las. So verletzt fühlte er sich durch diese Bekanntschaft, so bedrängt, daß er beschloß, ihn nie wiederzusehen, ja sogar auszuziehen, möglichst bald wegzugehen, nach Manhattan, nach Philadelphia, nach Los Angeles, irgendwohin, wo Nyquist ihn nicht erreichen konnte. Sein Leben lang hatte er sich danach gesehnt, jemanden kennenzulernen, der seine Gabe auch besaß, und nun, da sein Wunsch in Erfüllung gegangen war, fühlte er sich dadurch bedroht. Nyquist hatte sein Leben so fest in der Hand, daß es beinahe erschreckend war. Er wird mich demütigen, dachte Selig. Er wird mich verschlingen. Aber diese Panik legte sich. Zwei Tage darauf kam Nyquist zu ihm und lud ihn ein, mit ihm essen zu gehen. Sie speisten in einem nahen mexikanischen Restaurant und betranken sich mit Carta Bianca. Noch immer hatte Selig das Gefühl, daß Nyquist mit ihm spielte, ihn auslachte, ihn auf Armeslänge von sich hielt und kitzelte; aber das alles geschah so freundschaftlich, daß Selig es ihm nicht übelnahm. Nyquists Charme war unwiderstehlich, und seine seelische Kraft war es wert, als Verhaltensmodell kopiert zu werden. Nyquist war wie ein älterer Bruder, der ihm durch dieses selbe Tal der Traumata vorangegangen und vor langem schon unversehrt wieder herausgekommen war; nun versuchte er, Selig durch gutmütige Hänselei zum Akzeptieren der Bedingungen seiner Existenz zu bewegen. Der Übermenschlichkeit, wie Nyquist es nannte.
    Die beiden wurden dicke Freunde. Zwei- bis dreimal in der Woche gingen sie gemeinsam aus, aßen, tranken miteinander. Selig hatte sich immer vorgestellt, eine Freundschaft mit einem Menschen seiner Art müsse einzigartig innig sein, aber das war diese ganz und gar nicht; nach der ersten Woche schon nahmen sie ihre Besonderheit als selbstverständlich hin und sprachen kaum noch über ihre gemeinsame Gabe. Auch

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