Es stirbt in mir
alles, was mit der Parapsychologie zu tun hatte. Die minimalste Provokation genügte schon, um sie vom Thema einer Unterrichtsstunde abzulenken und sie auf eins ihrer Steckenpferde zu setzen. Sie war die erste in ihrem Häuserblock, die den I Ging besaß. Sie hatte einige Zeit in Orgone-Boxen verbracht. Sie war überzeugt, daß in der Großen Pyramide von Gizeh göttliche Offenbarungen für die Menschheit verborgen lagen. Sie hatte die höhere Wahrheit mit Hilfe von Zen, Allgemeiner Semantik, den Augenübungen von Bates und den Vorträgen von Edgar Cayce gesucht. (Den Fortgang ihrer Suche nach Wahrheit kann ich auch über das Jahr meines schulischen Kontakts mit ihr hinaus mühelos voraussagen. Sie hat sich mit Sicherheit auf Dianetik, Velikovsky, Bridey Murphy und Timothy Leary gestürzt, um dann im Alter als weiblicher Guru in einem Schlupfwinkel irgendwo in Los Angeles zu enden und von Psilocybin und Peyote abhängig zu werden. Arme, dumme, leichtgläubige, bemitleidenswerte, alte Miß Mueller!)
Über J.B. Rhines Forschungen auf dem Gebiet der außersinnlichen Wahrnehmung, die dieser an der Duke University durchführte, war sie natürlich stets auf dem laufenden. Sobald sie davon zu sprechen anfing, bekam David Angstzustände, denn er fürchtete, sie werde der Versuchung, einige der Rhineschen Experimente im Unterricht zu wiederholen, eines Tages nicht widerstehen können und ihn dadurch unweigerlich entlarven. Er selbst hatte Rhine natürlich auch gelesen: The Reach of the Mind und New Frontiers of the Mind; und sogar in die ziemlich unverständlichen Aufsätze des Journal of Parapsychologie hatte er einen Blick geworfen, weil er hoffte, dort auf etwas zu stoßen, was ihm zu besserem Selbstverständnis verhalf, aber es gab nur Statistiken und nebulöse Vermutungen. Okay, solange Rhine unten in North Carolina herumwurstelte, war er für ihn keine Gefahr. Diese verrückte Miß Mueller jedoch mochte es durchaus fertigbringen, ihn mit ihren wirren Ideen bloßzustellen und dann dem Scheiterhaufen auszuliefern.
Die Katastrophe war unvermeidlich. Das Thema der Woche war plötzlich das menschliche Gehirn, seine Funktionen und Möglichkeiten. Seht ihr, das ist das Großhirn, das hier das Kleinhirn und das da die medulla oblongata. Ein ganzer Garten von Synapsen. Der clevere dicke Norman Heimlich, der sich eine gute Note sichern wollte und genau wußte, auf welchen Knopf eben er drücken mußte, meldete sich: »Miß Mueller, glauben Sie, daß die Menschen jemals in der Lage sein werden, die Gedanken andrer Leute zu lesen – ich meine, nicht durch irgendwelche Tricks, sondern wirklich, durch echte geistige Telepathie?« Oh, diese Freude von Miß Mueller! Ihr knotiges Gesicht begann sich zu entknoten, geradezu zu strahlen. Das war ihr Stichwort für den Beginn einer lebhaften Diskussion über ESP, Parapsychologie, unerklärliche Phänomene, übernatürliche Formen der Kommunikation und Wahrnehmung, die Rhine-Forschungen, et cetera, et cetera, eine Sturzflut metaphysischer Irrelevanz. David hätte sich am liebsten unter sein Pult verkrochen. Bei dem Wort ›Telepathie‹ zuckte er zusammen. Er argwöhnte schon, daß mindestens die Hälfte der Klasse wußte, was mit ihm los war. Jetzt ein Aufflammen wilder Panik. Sehen sie mich an? Starren sie, zeigen sie, tippen sie sich an den Kopf und nicken vielsagend? Gewiß, das waren alles irrationale Ängste. Wieder und wieder hatte er jeden Kopf in der Klasse sondiert, als er während der langweiligen Unterrichtsstunden verzweifelt ein bißchen Abwechslung suchte, und wußte daher mit Sicherheit, daß sein Geheimnis noch nicht entdeckt worden war. Seine Mitschüler, allesamt schwerfällige, junge Brooklyner, würden niemals auf den Gedanken kommen, daß sich ausgerechnet in ihrer Mitte ein Supermann verbarg. Gewiß, sie hielten ihn für merkwürdig, doch wie merkwürdig er wirklich war, davon hatten sie keine Ahnung. Doch würde Miß Mueller ihm jetzt die Tarnkappe entreißen? Gerade jetzt sprach sie wieder davon, daß sie, um die potentielle Reichweite des menschlichen Gehirns zu demonstrieren, in der Klasse parapsychologische Experimente durchführen wolle.
Es gab kein Entkommen. Am nächsten Tag brachte sie ihre Karten mit. »Das hier sind sogenannte Zener-Karten«, erklärte sie feierlich, während sie die Karten emporhielt und sie fächerartig ausbreitete, als wäre sie Wild Bill Hickok, der sich gerade einen Straight Flush ausgeteilt hatte. Solche Karten hatte David noch nie
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