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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Heute ist es sogar noch kälter als gestern, die Luft ist klarer, die Sonne greller, ferner. Wie trocken mir die Welt vorkommt! Ein Wetter, in dem meine Gabe mit überwältigender Schärfe zu funktionieren pflegte. Während der Subwayfahrt zur Columbia University empfange ich jedoch praktisch so gut wie nichts, nur verschwommene, kleine Wortfetzen und Gemurmel, nichts als unzusammenhängendes Zeug. Anscheinend kann ich mich nicht mehr darauf verlassen, daß ich die Gabe an einem bestimmten Tag habe, und an diesem Tag setzt sie aus. Unberechenbar. Genau das bist du, der du in meinem Kopfe lebst: unberechenbar. Schlägst im Todeskampf blind um dich. Ich begebe mich zu meinem gewohnten Platz und erwarte meine Klienten. Sie kommen, sie holen sich, was ich ihnen mitgebracht habe, sie zahlen mir Geldscheine in die Hand. David Selig, geistiger Wohltäter der College-Menschheit. Ich sehe Yahya Lumumba wie einen schwarzen Sequoiabaum von der Butler Library her auf mich zukommen. Warum zittere ich? Wegen der Kälte, die in der Luft liegt, nicht wahr, der Ahnung von Winter, dem Tod des Jahres. Unterwegs winkt, nickt, grinst der Basketballstar nach allen Seiten; jeder kennt ihn, jeder begrüßt ihn. Ich habe das Gefühl, an seinem Ruhm teilzuhaben. Wenn die Saison wieder beginnt, werde ich mir vielleicht eines seiner Spiele ansehen.
    »Arbeit fertig, man? «
    »Ja, hier.« Ich nehme die Papierblätter vom Stapel. »Aischylos, Sophokles, Euripides. Sechs Seiten. Macht 21 Dollar, minus die fünf, die Sie mir schon gegeben haben. Ich bekomme also sechzehn Dollar von Ihnen.«
    »He, Moment mal!« Er hockt sich neben mir auf die Stufen. »Zuerst muß ich das Zeug mal durchlesen, ja? Woher soll ich sonst wissen, ob Sie gut gearbeitet haben.«
    Ich beobachte ihn beim Lesen. Irgendwie erwarte ich, daß er die Lippen bewegt, über die unbekannten Wörter stolpert, aber nein, seine Augen fließen über die Zeilen. Er nagt an seiner Unterlippe. Immer schneller liest er, wendet ungeduldig die Seiten. Schließlich hebt er den Kopf und sieht mich an. In seinen Augen lauert der Tod.
    »Das ist Scheiße«, sagte er zu mir. »Ganz große Scheiße ist das, man. Wollen Sie mich verarschen?«
    »Ich garantiere Ihnen eine Zweiplus. Kriegen Sie die nicht, brauchen Sie nichts zu bezahlen. Mindestens eine Zweiplus, sonst…«
    »O nein, wer redet hier von Zensuren? Ich kann diesen Scheißdreck doch gar nicht einreichen! Sehen Sie her, das ist zur Hälfte Jive-Gequatsche, und die andere Hälfte ist aus ’nem Buch abgeschrieben. Scheißdreck ist das, weiter nichts! Wenn der Prof das sieht, kommt er zu mir und sagt, Lumumba, sagt er, wofür hältst du mich? Hältst du mich für dämlich, Lumumba? Das hier hast du bestimmt nicht geschrieben, sagt er. Kein einziges Wort ist von dir, Lumumba.« Ärgerlich steht er auf. »Hör’n Sie mal zu, man, ich les’ Ihnen was vor. Ich werd’ Ihnen zeigen, was Sie mir da angehängt haben.« Er blättert, runzelt die Stirn, spuckt aus, schüttelt den Kopf. »Aber nein. Warum sollte ich? Ich weiß, was Sie damit vorhaben, man. Reinlegen wollen Sie mich, das ist es! Sich lustig machen über den dämlichen Nigger, stimmt’s?«
    »Ich wollte nur glaubhaft machen, daß Sie den Aufsatz selbst geschrieben…«
    »Quatsch! Verarschen wollen Sie mich, man. Sie schreiben da ’ne Menge stinkende Judenscheiße über Euripydes zusammen und hoffen, daß ich reinfalle, wenn ich das als meine eigene Arbeit ausgebe.«
    »Das stimmt nicht! Ich habe mein möglichstes für Sie getan, und glauben Sie nur nicht, daß das nicht schwierig war. Wenn Sie sich Ihre Semesterarbeiten schon von einem anderen schreiben lassen, dann müssen Sie auch darauf gefaßt sein, daß…«
    »Wie lange haben Sie dazu gebraucht? Viertelstunde?«
    »Acht Stunden, vielleicht sogar zehn«, antworte ich. »Und wissen Sie, was ich glaube, Lumumba? Daß Sie mich mit ihrem umgedrehten Rassismus fertigmachen wollen. Jude dies und Jude das – wenn Sie die Juden nicht mögen, warum haben Sie sich die Arbeit denn nicht von einem Schwarzen schreiben lassen? Warum haben Sie sie denn nicht selbst geschrieben? Ich habe gute Arbeit geleistet. Arbeit, die man nicht einfach als stinkende Judenscheiße abtun kann. Und ich versichere Ihnen, wenn Sie sie einreichen, werden Sie ein Semester weiterkommen, Sie kriegen mindestens eine Zweiplus.«
    »Durchfallen werde ich, das weiß ich jetzt schon.«
    »Nein. Nein! Vielleicht ist Ihnen nicht ganz klar, was ich damit erreichen

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